Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Fengler
Auf dem Weg zur Eisenbahn 4.0 – Predictive Maintenance
Vom Streckenläufer zum „Internet der Dinge“, von der Inspektion per Ohr und Augenschein zur „predictive maintenance“ – die Eisenbahn ist weltweit im Wandel. Auch wenn ich den Stellstrom einer Weiche in Taiwan schon vor etlichen Jahren nahezu in Echtzeit auf einem Laptop in Deutschland gesehen habe – die rasante Entwicklung der Netzwelt, die Fortschritte in der Softwaretechnik und Datenanalyse und die mit den großen Stückzahlen der Smartphones immer kostengünstiger verfügbaren Sensoren lassen wohl schon bald – im Windschatten der „Industrie 4.0“ – auch die „Eisenbahn 4.0“ Realität werden. Neben Rationalisierung muss es dabei Ziel sein, das Ausfallverhalten der „kritischen assets“, die für den Großteil der Verspätungen verantwortlich sind, besser zu beherrschen: Leit- und Sicherungstechnik, Fahrzeuge, Weichen. Die möglichen Herangehensweisen dabei sind vielfältig: Fahrzeuge überwachen sich selbst, Infrastruktur überwacht sich selbst, aber auch: Fahrzeuge überwachen Infrastruktur und umgekehrt. Einmal angenommen, dass die Investitionen zur flächendeckenden Echtzeitüberwachung in Form der Sensorik sowie der Datensammlung, -übertragung und -aufbereitung getätigt sind: die Herausforderung besteht in der der fachlich korrekten Verdichtung und Interpretation der immensen Mengen an Messdaten mit dem Ziel einer möglichst guten Prognose des Ausfallzeitpunkts. Viel verspricht man sich heute dabei von „Big Data“, „Smart Data“, „intelligenten Algorithmen“ und „selbstlernenden Systemen“. Etwas stutzig macht mich dabei, dass der Durchbruch der „künstlichen Intelligenz“ schon seit mehreren Jahrzehnten immer mal wieder propagiert wurde, gefolgt von Phasen der Ernüchterung hinsichtlich ihres wirklichen Reifegrads. Die heutigen Möglichkeiten sind natürlich gewaltig: riesige, auch unstrukturierte Datenmengen können in kürzester Zeit analysiert, Muster können erkannt und Trends extrapoliert werden. Ich bezeichne diese Herangehensweise als das Arbeiten mit „impliziten Modellen“, die brauchbare Antworten liefern, ohne dass wir manchmal genau wissen, warum. Bei vielen Fragestellungen funktioniert das. Bei anderen streuen die Messdaten jedoch derart stark, dass Muster kaum erkennbar sind und eine hinreichend sichere Interpretation nicht möglich ist. Das Dilemma ist dann, das entsprechende Bauteil aus Sicherheitsgründen nicht früher auszuwechseln, als das bei der klassischen Inspektion durch den erfahrenen Bahnmeister praktiziert worden wäre; schließlich will man ja auch bei der automatisierten Inspektion aus Gründen der Wirtschaftlichkeit den Instandhaltungsvorrat so weit wie vertretbar ausschöpfen. Diese Zwickmühle hat sich auf der Versuchsstrecke für Weichenherzstücke in Haste bei Hannover gezeigt. Das führt zu der Frage: Wieso sollen wir die Algorithmen in solchen Fällen mit unvollkommenem Ergebnis selbst lernen lassen, was wir als Fachingenieure ohnehin wissen: nämlich wie ein mechanisches System funktioniert – Massen, Beschleunigungen, Federn, Dämpfer, Steifigkeiten, Kopplungen – und Physik. Das nenne ich die „expliziten Modelle“. Sie haben neben der besseren Trennschärfe den Vorteil, dass dafür bei Bedarf auch ein Sicherheitsnachweis geführt werden kann – aber den Nachteil, dass die Entwicklung und Verifikation eines solchen „digitalen Zwillings“ (SPIEGEL 29/2014 S. 74) nicht nur Geld, sondern auch Zeit erfordert, die aber investiert werden müssen. Trotz des gegenwärtigen Hypes um Start-ups: die Arbeit für die Fachingenieure der Eisenbahn wird nicht ausgehen, und wie so oft gilt auch hier nicht „entweder – oder“, sondern „sowohl – als auch“.
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