Prof. Dr.-Ing. Ullrich Martin
Industrialisierung 4.0 – Herausforderung und Chance für die Bahn
Seit etwa fünf Jahren hat sich das aus einem bundesgeförderten Forschungsprojekt entstandene Schlagwort „Industriali-
sierung 4.0“ zu einem Synonym für intermaschinelle durch digitale Kommunikation dominierte Produktionsprozesse entwickelt. Es ist nachvollziehbar und grundsätzlich uneingeschränkt zu begrüßen, dass auch die Bahn diesen Ansatz aufgreift und verstärkt forcieren möchte. Dabei muss sich die Bahn, mit ihrem immateriellen, zeitlich und örtlich gebundenen Produkt der effizienten, flexiblen, ressourcenschonenden und ergonomisch optimierten Ortsveränderung regelmäßig ganz besonderen Herausforderungen stellen.
Während in anderen Bereichen gegenwärtig bereits die „Fabriken der Zukunft“ gebaut werden, ringt man bei der Bahn vorrangig um Konzepte, und nicht selten wird dabei der Schwerpunkt allzu stark auf nachgeordnete Funktionalitäten gesetzt. Allerdings wäre es sicher zielführender, den primären Schwerpunkt darauf zu setzen, die Kernfunktionen durchgängig so zu gestalten, dass die wesentlichen Voraussetzungen für eine Digitalisierung geschaffen werden. Bereits ein kurzer, keineswegs vollständiger Überblick ausgewählter interner Kernfunktionen zeigt den dringlichen Handlungsbedarf und die damit verbundene immense Aufgabe, die nicht allein unternehmerisch gelöst werden kann, sondern auch eine ausgeprägte gesellschaftlich-volkswirtschaftliche Dimension besitzt.
Der partielle Einsatz moderner Sicherungstechnik kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass noch weit über eintausend völlig überalterte Stellwerke effizienzhemmend und kaum sinnvoll in das Konzept „Industrialisierung 4.0“ integrierbar das fahrweggesteuerte System Eisenbahn signifikant beeinflussen. Der beabsichtigte Wettbewerb im Schienenverkehr wird zum innovationsverhindernden Hemmschuh, wenn längst überholte Technologien unter Berufung auf einen diskriminierungsfreien Netzzugang auf Jahrzehnte hin manifestiert werden, indem beispielsweise veraltete Sicherungssysteme mit hohem Investitionsaufwand zusätzlich bei Neu- und Ausbaustrecken verbaut werden. Die nachvollziehbare Schwierigkeit einer flächendeckenden Migration neuer technischer Lösungen hat inzwischen zu einer unverhältnismäßigen Typenvielfalt im Bereich der Infrastruktur und zu erheblichen Inkompatibilitäten bei den Fahrzeugen geführt, wodurch auch eine Umsetzung der Zielstellungen des Konzeptes „Industrialisierung 4.0“ extrem erschwert wird. Es dürfte der falsche Weg sein, wenn Kupplungssysteme aus dem vorletzten Jahrhundert mit neuen zusätzlichen technischen Lösungen ergänzt bzw. überlagert werden, anstatt vorhandene, seit über einhundert Jahren bewährte und auf aktuelle Anforderungen abgestimmte Lösungen einzusetzen. Der Bahnkörper muss wieder als integrales Teilsystem der Infrastruktur betrachtet werden. Was nutzt hochentwickelte digitale Gleisbautechnik, wenn es beispielsweise nicht gelingt, die für eine sichere zuverlässig verfügbare Infrastruktur essentiellen Entwässerungsanlagen als Linienbauwerke netzweit durchgängig funktionsfähig zu halten? Und schließlich ist in diesem Zusammenhang auch das Aufgabenprofil der Aufsichtsbehörden zu hinterfragen. Wäre es nicht sinnvoll, die Bau- und Betriebsaufsicht, das Erteilen von Betriebsgenehmigungen sowie die Bewilligung von Bundesmitteln durch eine damit regelmäßig verbundene verpflichtende Prüfung und Bewertung einer innovativen effizienten Systemgestaltung im Sinne einer volkswirtschaftlich sinnvollen Weiterentwicklung des Systems Bahn zu ergänzen?
Nur wenn es uns gelingt, den Schwung aus dem Trend „Industrialisierung 4.0“ auch konsequent pro-aktiv für die netzweite Implementierung zeitgemäßer Kernfunktionalitäten zu nutzen und damit den seit über einhundert Jahren entstandenen Innovationsstau aufzulösen, können neuentwickelte und zusätzliche Funktionen ihre volle Wirkung auch bei der Bahn als integralem Teil eines zukunftsorientierten Mobilitätssystems entfalten.
<link file:18577 _blank download>Hier können Sie den Beitrag als pdf runterladen.