Ir. Frans Heijnen

"Wie bewahren wir Systemwissen im Bahnsektor?"

Bereits in den Anfängen des Schienenverkehrs war das Systemdenken ein zentraler Aspekt in der Entwicklung und Expansion der Eisenbahn. Mit zunehmender Komplexität der Bahn, die in der steigenden Nachfrage ihrer Produkte durch die Gesellschaft begründet ist, wurde das Systemdenken zum Schlüsselfaktor. Die Eisenbahn ist kein Nebeneinander unabhängiger Disziplinen wie Gleisbau, Bauingenieurwesen und Signaltechnik, sondern vielmehr ein komplexes Zusammenspiel all dieser Disziplinen. Sie alle fließen gemeinsam ein in das Produkt, das die Eisenbahn ihren Kunden anbietet: ein hoch geschätztes Transportmittel für Reisende und Güter.

Bis in die späten 1990er Jahre waren die meisten Eisenbahngesellschaften in Europa als monolithische Unternehmen organisiert, was die Sichtweise des Unternehmens als Ganzes ermöglichte. Diese Denkweise war auch in den Menschen, die für die Bahn arbeiteten, verwurzelt, und sie war ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Schulung der Eisenbahnmitarbeiter auf allen Ebenen. Oft wurden junge Ingenieure zu Beginn ihrer Tätigkeit bei der Bahn an verschiedenen Arbeitsplätzen eingesetzt, damit sie auf diese Weise Erfahrungen in den unterschiedlichen Bereichen des Eisenbahnsystems sammeln konnten. Ingenieure, die im Infrastrukturbereich des Systems arbeiteten, wurden oft auch zum Zugführer ausgebildet, oder sie arbeiteten als Bediener in Steuerzentralen.

Die Aufspaltung der Eisenbahn in Infrastrukturbetreiber und Eisenbahnunternehmen hat zu einer Verringerung dieses Systemdenkens geführt. Jeder Teil der Eisenbahn versucht, die ihm zugewiesene Aufgabe in immer höherem Maße zu erfüllen, das heißt, ein wichtiger Bestandteil eines Gebildes zu sein, das vormals ein System war. Der Infrastrukturbetreiber möchte zum Beispiel seine Zielvorgaben in punkto Verfügbarkeit immer weiter verbessern und vergisst dabei im Prozess den Endkunden, der auf dem Bahnsteig steht oder im Zug sitzt. In jüngster Vergangenheit haben wir Beispiele hierfür gesehen und auch andere Beispiele können angeführt werden.

Es ist daher wichtig, dass wir wieder zu mehr Systemdenken finden, oder dass wir zumindest versuchen, diese systembezogene Sichtweise den Ingenieuren nahe zu bringen, die zukünftig Teil der Eisenbahn sein werden. Die gegenwärtig bei der Bahn tätigen Eisenbahningenieure gehen in den nächsten Jahren aufgrund der unausgewogenen Altersstruktur im Sektor in großer Zahl in Rente. Mit Silodenken (das heißt, wenn jeder sich ausschließlich um den eigenen Bereich kümmert) ist es nicht möglich, der Komplexität im Eisenbahnbereich gerecht zu werden. Dies gilt umso mehr, wenn die verschiedenen Aspekte der Eisenbahn erst auf der Überwachungsebene, wie in Ministerien oder Aufsichtsbehörden aufeinander treffen.

System Engineering ist das Schlagwort zu Beginn dieses Jahrhunderts. Es bedeutet, dass Systeme als Ganzes behandelt werden müssen, was durch die Verbesserung der Interaktion der Systemteile erreicht werden soll. Es bedeutet weiterhin, dass eine optimale Lösung für ein Untersystem (Gleise, Signalwesen etc.) nicht automatisch auch zu einem optimalen System führt. Die Interaktion spielt eine wichtige Rolle und es ist erforderlich, dass sie von den Menschen, die das System managen, in allen Teilen des Lebenszyklus verstanden wird. Aus diesem Grund brauchen wir Systemdenken.

Der VDEI kann eine entscheidende Rolle bei der Erweiterung dieses Systemwissens spielen. Als Plattform für Fachleute bietet er seinen Mitgliedern Mittel und Wege, um andere Teile des Systems zu verstehen und mit ihnen zu kommunizieren. Der VDEI sollte auch als ein Ort des Systemwissens gesehen werden, der mit Universitäten und Schulungseinrichtungen in Kooperation steht.

Systemwissen ist von entscheidender Bedeutung. Nur mit diesem Wissen kann die Eisenbahn richtig funktionieren und die Bedürfnisse ihrer Kunden erfüllen. Denn die Kunden, das sind Sie und ich, wenn wir in einen Zug steigen, der uns von einem Ort an einen anderen bringen soll.

 

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Artikel von Statement aus dem EI, Ausgabe 11/2012
Artikel von Statement aus dem EI, Ausgabe 11/2012