Heinrich Nöthe
"Verkehrsforschung für das 21. Jahrhundert auf neuer Grundlage"
So titelt Heinrich Nöthe seinen Leitartikel zum Thema "Forschung in der Bahnbranche" in ETR 1+2/2012. Und seine Forderung: Verkehrswissenschaften sind als komplexes, eigenständiges Wissenssystem zu begreifen und zu entwickeln.
Mobilität von Personen und Gütern gehört zu den elementarsten Phänomenbereichen menschlichen Daseins. Die Raumüberwindung ist daher eine der großen Herausforderungen. Das hat zu technischen und organisatorischen Lösungen geführt, die inzwischen als unverzichtbarer Unterbau und Besitzstand für Wirtschaft und Gesellschaft gelten. Der wissenschaftliche Bereich nimmt sich im Hinblick auf seine gesellschaftliche Bedeutung im Gegensatz dazu fast bescheiden aus und nennt sich im Plural Verkehrswissenschaften, wohl wissend, nicht abschließend definieren zu können, welche Wissenschaften dazugehören.
Die Verkehrswissenschaften waren von Beginn an im Schwerpunkt in den technischen Wissenschaften verortet. Aber auch weitere Wissenschaften waren nicht untätig, in neuerer Zeit auch die Informationswissenschaften mit der Verkehrstelematik oder der Bereich der Logistik. So gesehen waren die Verkehrswissenschaften immer schon hoch flexibel, effizient und anpassungsfähig.
Der reale Verkehrsbereich steht in Zusammenhang mit den klima-, umwelt- und energiepolitischen Herausforderungen unter enormem Veränderungsdruck. Damit ist ein Innovationsdruck entstanden, der auf der konventionellen Zeitschiene nicht abzuarbeiten sein dürfte. Hier ist gezielte Expertise aus dem Wissenssystem gefordert, um mit den Instrumenten der Wissenschaft über die Forschung Lösungen bis in den Innovationsprozess zu entwickeln und zu begleiten. Überlagert werden diese globalen Herausforderungen durch europäische und nationale Rahmenentwicklungen. Bei der Beantwortung dieser Frage ist einmal zu klären, was die Verkehrswissenschaften zukünftig als Wissensgebiete zu umfassen hätten. Weiterhin ist zu diskutieren, wie weit Verkehrsforschung zukünftig reichen sollte. Dass auch in Zukunft die technischen Wissenschaften Kern der Verkehrswissenschaften sein werden, ist unbestritten, werden doch auch politisch eher Techniklösungen denn Verhaltenslösungen zur Bewältigung der klima-, energie- und umweltpolitischen Fragestellungen angestrebt.
Hier deutet sich schon eine notwendige Erweiterung der Erkenntnisbereiche an, zumal gefundene Lösungen letztlich über Unternehmen und Märkte verbreitet werden. Die Problemlösung muss somit gefallen, attraktiv sein und im Rahmen einer betriebswirtschaftlichen Saldenmechanik Rendite abwerfen. Die letzte Meile einer Invention, an der Schwelle zur Innovation, ist häufig entscheidend für Sieg oder Niederlage einer an sich pfiffigen wissensbasierten Problemlösung. Auch hier ist spezielle wissenschaftliche Expertise gefragt, wie auch bei den verschiedensten weiteren aktuellen Fragestellungen z. B. der Bereiche Logistik, Telematik oder Finanzierung. Aber wie sieht der verkehrswissenschaftliche Kontext aus, aus dem heraus konsistente und vernetzte Lösungen hervorgehen sollen?
Worauf ich hinaus möchte, ist letztlich die Überlegung, den Verkehrswissenschaften zukünftig ein eigenes Wissenssystem zu hinterlegen, das die Interferenzen der einzelnen wissenschaftlichen Erkenntnisbereiche analysiert, identifiziert und für Problemlösungen aufschließt. Das Nebeneinander der einzelnen Erkenntnisbereiche der Verkehrswissenschaften muss auf einer höheren Ebene systemisch vernetzt werden. Dass hier die Komplexität von Problemlösungen exponentiell ansteigt, ist zu befürchten, kann aber nicht Argument gegen die Entwicklung eines solchen Wissenssystems sein.
Es geht darum, Komplexität ohne unzulässige Vereinfachung zu beherrschen. Der internationale Eisenbahnschienenverkehr ist hierfür ein beredtes Beispiel. Die Verkehrsforschung würde von einem Wissenssystem Mobilität und Verkehr den größten Nutzen ziehen und vermehrt Lösungen auf gesamtsystemischer Ebene auch politikberatend entwickeln. Forschung könnte auch in eine neue Arbeitsteilung zwischen dem mehr systemisch orientierten akademischen Teil und dem mehr praktischen und einzelfallbezogenen Teil der Ingenieur- und Planungsbüros eintreten.
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