Hans Günther Kersten
Herausforderungen für den Schienengüterverkehr in Europa
Die Herausforderungen, die der Schienengüterverkehr (SGV) in Europa zu bewältigen hat, lassen sich am besten veranschaulichen durch einen Vergleich mit dem wichtigsten Konkurrenten des SGV auf dem europäischen Transportmarkt: dem LKW.
Während der LKW in einem einheitlichen europäischen Wirtschaftsraum ohne Grenzkontrollen innerhalb der EU im wesentlichen die gleichen Einsatzbedingungen vorfindet wie im Inland, stellen sich für einen Güterzug beim Passieren einer Grenze zwischen zwei EUMitgliedsstaaten eine Reihe von rechtlichen, administrativen und technischen Problemen, die den Transport erheblich verteuern bzw. verzögern.
Da ist zum einen das European Rail Traffic Management System (ERTMS), das die verschiedenen nationalen Systeme der Leit- und Sicherungstechnik vereinheitlichen soll, durch voneinander abweichende nationale Spezifikationen jedoch derzeit in Europa oft nicht interoperabel ist. Somit ist ein Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU), das mit seiner Lokomotive mehrere EU-Staaten durchqueren möchte, gezwungen, diese für eine Vielzahl verschiedener ERTMS-Varianten auszurüsten.
Kosten treibend wirkt sich auch die Anforderung aus, dass der Lokführer die Sprache des Landes, in dessen Netz er verkehrt, beherrschen muss. Für LKW-Fahrer gibt es keine derartigen Vorschriften. In vielen europäischen Eisenbahnnetzen gilt die Pflicht zur Beherrschung der Landessprache selbst dann, wenn in Grenzbahnhöfen – etwa im Rangierbetrieb – nur wenige hundert Meter in das Gebiet des Nachbarlandes hinein gefahren wird.
Ein weiterer Nachteil der Eisenbahn gegenüber dem LKW besteht darin, dass Lokomotiven für jedes Einsatzland eine eigene nationale Zulassung benötigen, während beim LKW die Zulassung im Land des Halters international anerkannt wird.
Für einige dieser Benachteiligungen des Schienenverkehrs gegenüber dem LKW ist durch das Vierte Eisenbahnpaket der EU Abhilfe oder zumindest Linderung zu erwarten. So ist dort u. a. vorgesehen, dass die Europäische Eisenbahnagentur ERA die Zulassung von Fahrzeugen für den grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehr von den nationalen Behörden übernehmen wird.
Auch durch die Einrichtung von Korridoren für den SGV, verbunden mit Massnahmen zur Sicherstellung der Interoperabilität sowie einer effizienten Trassenallokation könnten sich die Einsatzbedingungen des SGV denen des LKW zumindest teilweise annähern.
Die UIC unterstützt dies durch Projekte wie CIDROC (Compare International Dispatching Rules on Corridors) und ECCO (Efficient Cross Corridor Organisation).
Beim Thema Nachhaltigkeit ist die Eisenbahn in Europa aufgrund des hohen Elektrifizierungsgrades sowie der hohen Energieeffizienz was die Emissionen anbelangt im Vergleich zum LKW nach wie vor führend, wenn auch durch konsequente Innovationen die Emissionsgrenzwerte für LKW in den letzten Jahren kontinuierlich reduziert werden konnten.
Dafür ist – insbesondere in dicht besiedelten Regionen – das Thema Schienenlärm mehr und mehr in den Fokus gerückt. Die durchaus richtige Maxime, den Lärm vorrangig dort zu bekämpfen, wo er entsteht, nämlich am Fahrzeug, darf nicht dazu führen, den Fahrzeughaltern nach dem Verursachungsprinzip sämtliche Kosten der erforderlichen Massnahmen, wie etwa Umrüstung der Güterwagen auf die sog. „Flüsterbremse“ in voller Höhe aufzuerlegen. Dies würde im Ergebnis zu weiteren Kostenvorteilen des LKW gegenüber der Schiene führen und das von der EU auch aus Klimaschutzgründen verfolgte Ziel, den Marktanteil der Schiene im Modal Split zu erhöhen, in sein Gegenteil verkehren.
Die geringen Gewinnmargen im SGV bewirken nicht nur im Bereich von Umweltschutzmassnahmen, sondern auch bei Innovationen allgemein eine Schwächung der Innovationskraft der betreffenden Unternehmen. Ganz anders beim LKW: Hier hat es in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe von Technologiesprüngen gegeben, die sich insbesondere bei Kraftstoffverbrauch und Emissionen positiv ausgewirkt haben.
Zu Produktivitätsverbesserungen durch Innovationen gibt es im SGV keine Alternative, will man aus dem Teufelskreis „geringe Erträge – geringe Innovationskraft – geringe Produktivität – geringe Erträge” ausbrechen. Auch die UIC leistet ihren Beitrag im Bereich der Innovationen. Das UIC-Projekt e-Wag etwa soll Standards für die IT-Kommunikation mit „intelligenten” Güterwagen entwickeln und auch die von der UIC koordinierte CEO Task Force arbeitet an einer Reihe von Innovationsthemen, wie z. B. autonomes Fahren.
Der Technische Innovationskreis Schienengüterverkehr (TIS) hat für Innovationen bei Güterwagen einen fünf Punkte umfassenden Forderungenkatalog aufgestellt („5 L“):
- Leise: Signifikante Senkung der Lärmemissionen
- Leicht: Höhere Zuladung durch geringere Eigenmasse des Waggons
- Laufstark: Verringerung von Ausfall- und Stillstandszeiten, Erhöhung der jährlichen Laufleistungen
- Logistikfähig: Integration in Supply Chains; hohe Bedienqualität
- Life Cycle Cost-orientiert: Sicherstellung der Wirtschaftlichkeit über den gesamten Lebenszyklus
Mit Innovationen, die diese Forderungen erfüllen, kann der Vorsprung des LKW gegenüber dem SGV in Europa zumindest verringert werden.
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