Analyse und Bewertung der regionalen Erschließungsqualität im Schienenpersonenfernverkehr

Problemstellung

Siebzehn Jahre nach dem Start der Bahnreform am 1. Januar 1994 hat sich der Schienenverkehrsmarkt in Deutschland – und hier speziell der Personenverkehr – grundlegend verändert. Aus den Behörden Bundesbahn und Reichsbahn ist mittlerweile ein global agierender Konzern geworden, der nach 40 Jahren kontinuierlichen Verlustes seit 2004 Gewinne erwirtschaftet und eigenen Angaben zufolge auch die zurückliegende Finanz- und Wirtschaftskrise gut überstanden hat (vgl. DB Mobility Logistics AG (2010b), Seite 3f.). Der Regionalverkehr wurde in dieser Zeit grundlegend modernisiert, sowohl was die Fahrzeuge als auch das Fahrplanangebot betrifft: Deutschlandweit wurden Taktfahrpläne eingeführt und gleichzeitig die Zahl der Zugfahrten erhöht. Zudem entwickelte sich ein reger Wettbewerb, bei dem die Konkurrenten der Deutschen Bahn mittlerweile einen Marktanteil von 20,3 Prozent erreicht haben (Stand 2009). Im Güterverkehr lag der Marktanteil der DB Konkurrenz im Jahr 2009 sogar bei fast einem Viertel (vgl. Deutsche Bahn AG (2010b)).
Möglich wurde dieser grundlegende Wandel des Regionalverkehrs vor allem durch eine Änderung der Verantwortlichkeiten und der Finanzierung. Die Bundesländer sind im Zuge der Bahnreform nun für die Planung, Bestellung und Finanzierung des Schienenpersonennahverkehrs zuständig und haben seitdem einen regen Ausschreibungswettbewerb in diesem Markt in Gang gesetzt.
Der Bereich des Schienenpersonenfernverkehrs unterliegt dagegen einzig dem unternehmerischen Handeln der Eisenbahnverkehrsunternehmen, die ihn frei von Zuschüssen eigenwirtschaftlich betreiben und finanzieren müssen. Die Deutsche Bahn baute im Rahmen dieses unternehmerischen Handelns besonders den Hochgeschwindigkeitsverkehr stark aus. Neue Fahrzeuge wie der ICE 3 bieten hohe Geschwindigkeiten und hohen Komfort, was sich letztlich auf den befahrenen Strecken in einem starken Anstieg der Fahrgastzahlen niederschlug – so stiegen diese beispielsweise zwischen Köln und Frankfurt nach der Eröffnung der Schnellfahrstrecke innerhalb kurzer Zeit um 36 Prozent (vgl. Schubert (2007)). Andererseits führte der Zwang zur Eigenwirtschaftlichkeit aber ebenso dazu, dass zahlreiche schwächer nachgefragte Fernverbindungen abseits der Metropolen eingestellt oder stark ausgedünnt wurden.
Darüber hinaus findet Wettbewerb zwischen der Deutschen Bahn und potenziellen Konkurrenten kaum statt: So liegt der Anteil der Konkurrenz seit Jahren unter einem Prozent, und auch derzeit geplante Projekte potenzieller Wettbewerber verzögern sich weiter (vgl. Deutsche Bahn AG (2010b)).
Die Situation im deutschen SPFV wird daher immer wieder stark beanstandet, wobei insbesondere die Unternehmenspolitik der Deutschen Bahn AG im Fokus steht, die nach Ansicht vieler Kritiker sowohl die Erschließung der Fläche als auch den Wettbewerb im SPFV behindert. Rechtsgrundlage der Kritik sind dabei die im Paragrafen 2 des Raumordnungsgesetzes getroffenen Festlegungen, nach denen in der Bundesrepublik „ausgeglichene […] infrastrukturelle […] Verhältnisse“ und eine „gute und verkehrssichere Erreichbarkeit der Teilräume untereinander durch schnellen und reibungslosen Personen- und Güterverkehr“ zu gewährleisten sind (§2 ROG), vgl. Raumordnungsgesetz (ROG) vom 22. Dezember 2008, BGBl. I S. 2986.
Zahlreiche Interessengruppen und Initiativen, aber auch die Politik diskutieren immer wieder sehr rege Forderungen und Vorschläge, wie die Problemfelder Wettbewerb und regionale Anbindung im SPFV gelöst werden können. Prominentestes Beispiel hierfür ist derzeit die Initiative „Deutschland-Takt“, die insbesondere auf eine verbesserte Flächenerschließung im deutschen Schienenpersonenverkehr gerichtet ist.

Zielsetzung


Die erwähnte Kritik am SPFV in Deutschland lässt allerdings in einer Reihe von Fällen eine fundierte wissenschaftliche Basis vermissen, die in einer exakten Analyse und Zustandsbeschreibung des Status quo im SPFV bestünde, auf deren Grundlage Kritik – und weitergehend Lösungsvorschläge – geäußert werden können. Zugleich bietet die Wissenschaft derzeit kein befriedigendes Untersuchungsmodell zur Analyse eines Fahrplannetzes des Öffentlichen Verkehrs, das auf den deutschen SPFV angewendet werden konnte. Ziel der vorliegenden Arbeit soll es daher sein, eine Methodik zur Analyse der Angebotsqualität eines Netzfahrplanes unter Einbeziehung fahrgastrelevanter Parameter zu entwickeln. Besonderes Augenmerk soll dabei darauf gelegt werden, dass Analyse und Bewertung eines Netzfahrplanes auf Basis einer umfassenden Nutzer-, also Fahrgastperspektive, erfolgen.
Im Rahmen der skizzierten Problemstellung soll die zu entwickelnde Methodik eine fundierte Aussage über den Status quo des deutschen SPFV im Jahre 2010 ermöglichen, indem die Erschließungsqualität der deutschen Regionen detailliert analysiert und untereinander vergleichend dargestellt wird. Damit wird auch eine Einschätzung darüber möglich sein, ob und wie weit die Festlegungen des Raumordnungsgesetzes erfüllt werden.
Des Weiteren soll es durch einen Vergleich mit der Situation von vor zehn Jahren möglich sein, eine Aussage über den Grad der Veränderung des SPFV-Angebotes seit Ende der 1990er Jahre zu treffen, als die Deutsche Bahn ihren Marktauftritt drastisch änderte. Die Darstellung der gewonnenen Ergebnisse soll dabei leicht verständlich und nachvollziehbar gestaltet werden, um mit der zu entwickelnden Methodik ein Instrument zu schaffen, das Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft zur Unterstützung ihrer Arbeit in die Hand gegeben werden kann.


Aufbau der Arbeit


Im Abschnitt 2 wird zunächst ein Überblick über die Entwicklung und die gegenwärtigen Rahmenbedingungen des deutschen SPFV-Marktes gegeben und dabei besonders auf die Fernverkehrssparte der Deutschen Bahn AG eingegangen, um die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit zu unterstreichen. Im Abschnitt 3 erfolgt die Vorstellung und Bewertung derzeit angewandter Verfahren zur Analyse der Erschließungsqualität von Eisenbahn-Verkehrsangeboten und darauf aufbauend im Abschnitt 4 die Ableitung der Grundlagen für die Entwicklung eines empirischen Analyse- und Bewertungsverfahrens zur Untersuchung von Eisenbahn-Verkehrsangeboten. Hierbei steht vor allem die Idee der differenzierten Betrachtung des Eisenbahnsystems in Bezug auf die materielle und immaterielle Infrastruktur im Vordergrund.
Im Anschluss daran wird in den folgenden Abschnitten das Verfahren zur Analyse und Bewertung von Eisenbahn-Verkehrsangeboten entwickelt. Dabei erfolgt im Abschnitt 5 zunächst die Ausarbeitung einer Methodik zur Erfassung eines Verkehrsangebotes auf Grundlage einer Bewertung mit Punktzahlen. Im anschließenden Abschnitt 6 wird eine auf der Berechnung von Indikatoren aufbauende Methodik zur Analyse der Daten abgeleitet und abschließend im Abschnitt 7 mit der Bildung von Indizes eine Möglichkeit aufgezeigt, wie die erhaltene Analyse bewertet und vergleichbar gemacht werden kann. Die in den vorangegangenen Abschnitten entwickelte Methodik wird im letzten Teil der Arbeit schließlich auf die Analyse des SPFV in Deutschland angewendet. Hierzu erfolgt im Abschnitt 8 zunächst die allgemeine Konzeption einer solchen Analyse, basierend auf dem raumordnerischen System der Zentralen Orte. Darauf aufbauend wird im folgenden Abschnitt 9 die detaillierte Ausgestaltung dieser Konzeption auf Grundlage der entwickelten Analyse- und Bewertungsmethodik vorgenommen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung werden in den folgenden beiden Abschnitten vorgestellt und ausgewertet, wobei im Abschnitt 10 zunächst auf die Situation im Gesamtgebiet der Bundesrepublik eingegangen und danach im Abschnitt 11 das Oberzentrum Chemnitz detaillierter betrachtet wird. Eine vergleichende Analyse des SPFV in der Schweiz sowie der Erschließung des Oberzentrums Chemnitz im Winterfahrplan 1998/1999 zeigt dabei die Möglichkeiten der erarbeiteten Methodik auf.

Artikel von Stephan Bunge
Artikel von Stephan Bunge