Interviews

Wladimir Jakunin

"Wir müssen in großen Zeiträumen denken"

Herr Dr. Jakunin, wie sehen Sie die internationale Rolle der Russischen Eisenbahnen in Eurasien – gegenwärtig und in Zukunft?

Die Größe und die geographische Lage unseres Landes bestimmen in vieler Hinsicht die Bedeutung der Verkehrsinfrastruktur. Die Russische Eisenbahnen AG betreibt eines der größten Transportnetze weltweit mit mehr als 85 000 Kilometern Schienenwegen.
In Bezug auf ihre internationale Bedeutung ist die Russische Bahn der Brückenkopf zwischen West und Ost auf dem Festland – die Bahnstrecke durch Russland ist der schnellste Weg für die Beförderung von Gütern aus China nach Europa. Unser Ziel ist die Entfaltung des Transitpotentials dieser euroasiatischen „Transportbrücke“, weil die Schnelllebigkeit des heutigen Alltags neue Anforderungen an die Transport- und Logistikdienstleistungen stellt und der wichtigste Faktor für ihre wirtschaftliche Attraktivität die Lieferzeit von Gütern auf der gesamten Strecke ist.

Welche Pläne haben Sie für den Passagierverkehr, etwa beim Bau und bei der Erweiterung der Schnellstrecken?

Dem Bau von Schnellstrecken gehört zweifellos die Zukunft im Schienenverkehr. Das bezieht sich künftig nicht nur auf den Passagier-, sondern auch auf den Frachtbereich: Durch die neuen Verbindungen für High-Speed-Züge im Passagierverkehr gibt es mehr Schienenwege für die Güterzüge.
Eine neue Hochgeschwindigkeitsstrecke ist zwischen Moskau und Kazan geplant. Eine Machbarkeitsstudie für dieses Projekt wurde bereits erstellt und von staatlichen Gutachtern positiv beschieden. Zudem wurde das Projekt von internationalen Experten auf seine finanzielle und technische Umsetzbarkeit geprüft. Fachleute haben die Daten der Investitionsbegründung hinsichtlich des Niveaus technischer Lösungen und der Kosten bestätigt, und der Voranschlag in der Planungsphase der Magistrale ist fertig.
Ich kann sagen, dass ein Gremium führender russischer Institute auch den volkswirtschaftlichen Nutzen der Schnellzugtrasse geprüft hat. Der Vorteil liegt demnach auf der Hand: In den ersten zwölf Jahren des Betriebs der Trasse wird das russische Bruttosozialprodukt – aufgrund von Agglomerationseffekten durch Produktivitätssteigerung und Wachstum der Branchen außerhalb der Rohstoffgewinnung – gemäß den Prognosen 11,7 Billionen Rubel betragen. Die zusätzlichen Steuereinnahmen in diesem Zeitraum belaufen sich auf 3,8 Billionen Rubel. Das ist deutlich mehr als die Kosten für die Umsetzung des Projekts. Die Untersuchungsergebnisse wurden vom russischen Ministerium für Wirtschaftsentwicklung bestätigt.

Es ist ein sehr umfangreiches Projekt …

… allerdings. Die Neubaustrecke zwischen Moskau und Kasan ist 770 km lang und durchläuft sieben Regionen mit Haltestellen in einem Abstand von jeweils 50 bis 70 km. Die Strecke führt durch Gebiete mit einer Gesamtbevölkerung von etwa 30 Mio. Menschen. Die Fahrzeit zwischen Moskau und Kasan beträgt 3,5 Stunden. Es wird mit 10,5 Mio. Passagieren bis 2020 gerechnet, die diese Verbindung jährlich nutzen werden.
An dem Projekt zum Bau einer Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Moskau und Kasan sind ausländische Partner interessiert. Es ist deutlich mehr als nur Interesse, sondern bereits die Bereitschaft zur Teilnahme an der Realisierung des Projektes im Rahmen einer öffentlich-privaten Partnerschaft und an einer gemeinsamen Projektfinanzierung. Am 13. Oktober wurde eine entsprechende Absichtserklärung zwischen der Russischen Eisenbahnen AG, dem russischen Transportministerium und dem chinesischem Staatskommitee zur Entwicklung und Reform der Chinesischen Eisenbahn unterzeichnet.

Der Güterverkehr zwischen China und Westeuropa spart auf der Schiene deutlich Zeit gegenüber dem Seeweg, zudem ist er wesentlich günstiger als der Luftverkehr. Gibt es Pläne zum Ausbau des Bahngüterverkehrs?

Diese Arbeit ist bereits im Gange. In der RŽD-Holding, der Russische Eisenbahnen AG, wird das Konzept zur integrierten Entwicklung des Containergeschäfts erarbeitet. Wichtig sind dabei nicht nur die Einhaltung des Zeitplans der Transporte – das betrifft sowohl die reine Fahrzeit als auch die Ankunftszeit –, sondern auch die Entwicklung neuer Technologien für den schnellen Güterverkehr sowie die Steigerung der Regelmäßigkeit und die Gewährleistung des Kundendienstes. Zur Vereinfachung der Zollabfertigung an der Grenze entwickelt Russland ein elektronisches Dokumentensystem mit seinen ausländischen Kollegen.
Der zukünftige Ausbau des Transitgüterverkehrs „Ost-West“ wird maßgeblich vom „Aktionsprogramm zur Entwicklung des Containertransports unter Nutzung der Transsibirischen Eisenbahn“ bestimmt. Wir haben übrigens in Übereinstimmung mit diesem Programm das innovative Verkehrsprodukt „Transsib in 7 Tagen“ auf den Markt gebracht.
Auf der Transsibirischen Eisenbahn haben wir jetzt optimale Beförderungsbedingungen erreicht, Beschränkungen für die Fahrgeschwindigkeit werden sowohl an den Stationen als auch an der Strecke schrittweise abgebaut. Erste Ergebnisse zeigen, dass das Aufkommen der Frachtcontainer auf dieser Strecke bereits deutlich gestiegen ist.

Ihre Maßnahmen wirken sich also auch auf die internationale Transportwirtschaft aus?

Die Transportwege müssen zu einem der Katalysatoren für den unvermeidlichen Prozess der wirtschaftlichen Konvergenz und der internationalen Integration der eurasischen Länder werden. Die Einrichtung einer stabilen logistischen Kette für Warenlieferungen zwischen Europa und Asien über die transsibirische Bahnstrecke ist sowohl für Russland als auch für alle anderen Länder auf dem Kontinent strategisch vorteilhaft.
In Zusammenhang mit Ihrer Frage ist ein weiteres Projekt erwähnenswert, mit dessen Umsetzung in diesem Jahr begonnen wurde. Es handelt sich um das Projekt zur Verknüpfung der Transsibirischen und Transkoreanischen Eisenbahn durch die Wiederbelebung der Strecke zwischen Hasan in Russland und Rajin in Nordkorea sowie die Errichtung eines Frachtterminals. Dieses Projekt gewährleistet eine direkte Zugverbindung zwischen den europäischen Ländern und Nordkorea und erhöht außerdem die Attraktivität für Transporte südkoreanischer Frachtcontainer mit der Bahn.


Und wie gestaltet sich angesichts der aktuellen politischen Spannungen das Projekt zur Verlängerung der Breitspurbahn bis an die Donau?

Die angespannte internationale Situation hat sich auf das Projekt zur Erweiterung der Breitspurstrecke bis Wien nicht ausgewirkt. Die Eisenbahngesellschaften Österreichs, der Slowakei und der Ukraine – die alle unsere Partner sind – wirken weiterhin an der Umsetzung mit. Das Projekt befindet sich derzeit in der Planungsphase, bis Jahresende sind die Arbeiten am Businessplan abgeschlossen.
Es ist offensichtlich, dass die Verlängerung der Breitspurbahn von Košice nach Wien von großer Bedeutung ist: Die Umspurung der Züge in Europa ist dann nicht mehr erforderlich. Das reduziert sowohl die Transportkosten für die Güter als auch die Lieferzeit von 12–14 Tagen. Bis 2050 wird mit einem Verkehrsaufkommen von 16–24 Mio. t Fracht gerechnet.

Gewinnt durch die politische Lage die Bahnfähre über die Ostsee via Saßnitz an Bedeutung?

Die Zukunft der Bahnfähre via Saßnitz und die zunehmende Wichtigkeit dieser Strecke hängt nicht nur von der politischen und wirtschaftlichen Situation ab, sondern auch von der Qualität der erbrachten Dienstleistungen, der Harmonisierung der Tarife und der möglichen Diversifizierung dieser Verbindung in Bezug auf die Erschließung neuer Fährverbindungsnetze in Kooperation mit interessierten Geschäftspartnern.
Wir sind bereit, potentiellen Kunden eine ausgereifte Transport-und Logistikdienstleistung anzubieten, die sowohl die Auswahl einer optimalen Anlieferungsroute umfasst als auch das Umladen auf die russischen Eisenbahnen bei Strecken über den Landweg, das Verladen in den Häfen sowie das Verladen auf den Seeweg der Strecke und die Organisation des Umladens auf die Eisenbahnen der jeweiligen europäischen Staaten. Das heißt also, dass unser Angebot alle Etappen des Transportprozesses umfasst. So gewährleisten wir eine Technologie der „nahtlosen Logistik“ und bieten dem Kunden einen Service mit nur einer Anlaufstelle an, was ja heutzutage im höchsten Maße gefordert wird.
Diese Initiativen finden zunehmend Resonanz auch bei russischen Herstellern, die nach Europa exportieren, und wir werden sie in Zukunft weiter entwickeln und so eine immer größere Zahl russischer, aber auch ausländischer Partner und Kunden anziehen.

Welche strategischen Maßnahmen können Sie ergreifen, um eine zuverlässige und dauerhafte Kommunikation zwischen dem Osten und dem Westen zu sichern?

Eine zuverlässige und dauerhafte Kommunikation zwischen Ost und West in Bezug auf den Güter-und Personenverkehr gibt es bereits jetzt. Dennoch gibt es viel zu verbessern. Dies ist nötig, um die Kapazität der Bahnstrecken auszubauen und die Geschwindigkeit der Züge zu erhöhen. Die Russische Eisenbahnen AG hat eine Reihe infrastruktureller, rechtlicher, wissenschaftlicher und technischer Projekte gestartet, die das Transitpotenzial der eurasischen „Transportbrücke“ offenlegen.
Unsere Tochtergesellschaften haben zusammen mit unseren ausländischen Partnern einen regelmäßigen Containerzugverkehr zwischen Europa und Asien auf die Beine gestellt. Unter Beteiligung der Logistiksparte der Russischen Eisenbahnen AG wurden beispielsweise die Containerzüge Far East Land Bridge (FELB) und Yuxinou auf die Schiene gebracht.
Im Rahmen der Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraums und integrierter Transport- und Logistikunternehmen gibt es seit 2012 ständige Anstrengungen, denTransportkorridor als Alternative zum Seeweg für Containerfracht zwischen China und der Europäischen Union zu entwickeln. Wir rechnen damit, dass bis 2020 bis zu 1 Mio. TEU pro Jahr auf diese Strecken gebracht werden können.
Was künftige Projekte angeht, muss ich auch das von der Russischen Eisenbahn erarbeitete Konzept der Trans-Euro-Zone „RAZVITIE“ erwähnen. Dabei soll auf der Basis multimodaler Infrastrukturen – Eisenbahn, Auto, Energie, Wasser und Information – ein makroregionales System gebildet werden, das die Wirtschaften Europas, Russlands und asiatischer Länder wie Kasachstan, China, Japan, Korea und so weiter verbindet. Für potenzielle Investoren kann die Trans-Eurasien Zone „RAZVITIE“ ein Instrument für langfristige Investitionen in High-Tech-Infrastruktur-Projekte im realen Wirtschaftssektor werden.

Welche Infrastrukturprojekte realisiert die Russische Bahn derzeit?

Das wichtigste Infrastrukturprojekt ist für uns heute der Ausbau des Eisenbahnnetzes im östlichen Landesteil: Die Erhöhung der Kapazität und Belastbarkeit der Baikal-Amur-Magistrale BAM und der Transsibirischen Eisenbahn ist unser wichtigstes Infrastrukturprojekt, wie ich oben bereits erwähnt habe. Wir wollen mehr als 562 Mrd. Rubel in das Projekt investieren. Der Staat steuert 260 Mrd. Rubel bei, 302 Mrd. Rubel investiert die Russische Eisenbahn selbst. Der beschlossene Plan würde den Transport von Gütern auf diesen Strecken zum Jahr 2020 hin um 66 Mio. t im Vergleich zum Jahr 2012 erhöhen.
Ein weiteres wichtiges Projekt ist der Ausbau der Bahninfrastruktur des Moskauer Verkehrsknotens. Wir müssen die Durchlässigkeit und die Kapazität der Eisenbahninfrastruktur verbessern – das ist besonders wichtig für die größte Metropole des Landes, wo der Passagierverkehr ständig steigt. Ziel des Projekts ist die harmonische Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur des Eisenbahn- und des Intercity-Personenverkehrs sowie die Schaffung damit verbundener und komplementärer Unternehmen. In Moskau gibt es neue Segmente des Wirtschaftswachstums, 10 400 neue Stellen werden geschaffen, 4000 davon im Bereich Passagierverkehr.
Zudem setzen wir auch Infrastrukturprojekte im Süden des Landes um. Insbesondere bauen wir die Strecke M.Gorkij – Kotel‘nikovo – Tichoreckaja – Krim mit einer Umgehung des Knotenpunkts Krasnodar aus. Das gewährleistet die Warenlieferung in die Häfen des Asowschen und des Schwarzen Meeres, also nach Novorossijsk, Tuapse, Kavkaz, Temrjuk und den neuen Seehafen Taman, und es erlaubt zudem, den Warenverkehr auf die Strecke Timaschewskaja – Krim umzuleiten und damit die Arbeit des Knotenpunkts Krasnoda zu optimieren.
Im Nordosten des Landes bauen wir die Strecke Mga – Gatschina – Vejmarn – Ivangorod sowie Eisenbahnverbindungen zu den Häfen am südlichen Finnischen Meerbusen wieder auf. Und wir befassen uns auch mit der Entwicklung der Eisenbahninfrastruktur in anderen russischen Regionen.
Ich sollte noch hinzufügen, dass die RŽD-Holding nicht nur auf russischem Staatsgebiet Bahnstrecken baut. Wir setzen auch im Ausland Infrastrukturprojekte um: in Iran, Serbien, Nordkorea. Wir suchen nach Möglichkeiten und Perspektiven an Projektbeteiligungen in Brasilien, Ecuador, Äthiopien und Vietnam und erwägen die Möglichkeit einer Wiederaufnahme der Arbeit in Libyen nach dem Umsturz 2011.

Sie selbst sind nicht nur Präsident der RŽD, sondern zugleich Vorsitzender des Internationalen Eisenbahnverbandes UIC. Welche technischen, aber auch politischen Herausforderungen sehen Sie in dieser Funktion in den nächsten fünf bis zehn Jahren?

Ich bin sicher, dass die Fragen, die sich die Eisenbahnunternehmen in der ganzen Welt heute stellen, im Laufe der nächsten fünf bis zehn Jahre nicht an Aktualität verloren haben werden. Wie macht man einen Transport schneller, ungefährlicher und insgesamt effektiver? Wie minimiert man die Belastung der Umwelt? Welche neuen Technologien soll man benutzen, um Transportdienstleistungen für den Kunden noch günstiger und attraktiver zu machen? In erster Linie muss die Eisenbahn gerade diese Fragen in der näheren Zukunft lösen, indem sie den UIC als Plattform zum Erfahrungsaustausch und der Ausarbeitung angemessener Lösungen nutzt.
Wo wir gerade bei technischen Herausforderungen sind, muss ich bemerken, dass das ernsthafteste Problem immer noch wesentliche Unterschiede in den technischen Standards sind, die eine Konkurrenz der Eisenbahn mit alternativen Transportwegen erschweren. Aber wir arbeiten bereits daran, mit dieser Schwierigkeit fertig zu werden. In Rahmen der Standardisierungsplattform des UIC ist zum Beispiel die Vorbereitung internationaler Eisenbahnstandards im Gange, die die Interrentabilität der verschiedenen Eisenbahnsysteme fördert und dadurch den Verbrauch in Produktion und technischer Bedienung senkt.

Lehrt nicht die Erfahrung, dass man dabei in großen Zeiträumen denken muss?

Eine solche Harmonisierung erfordert natürlich lange und hartnäckige Arbeit, und die Ergebnisse werden nicht von heute auf morgen da sein. Ja, wir müssen in großen Zeiträumen denken, aber ich bin überzeugt, dass eine konsequente und beharrliche Bewegung in dieser Richtung die Eisenbahn auf den neuesten Stand der Technik bringen wird.
Im Hinblick auf die politischen Herausforderungen muss ich vor allem daran erinnern, dass der UIC keine politische Organisation ist. Genau darin liegt auch sein Vorteil. Es ist jene Plattform, auf der die Eisenbahnchefs der ganzen Welt Fragen von praktischer Zusammenarbeit und essentielle Geschäftsfragen erörtern können, ohne gleich in politische Debatten zu geraten. So war es – und so wird es hoffentlich auch bleiben. Die Geschäftspolitik der Verbandsmitglieder ist natürlich wiederum von Belang. Und hier versuchen wir, vorwärts zu schauen und unseren Mitgliedern zu helfen: Es liegen strategische Dokumente für alle sechs Regionen des internationalen Eisenbahnverbandes bereit, und im nächsten Jahr wollen wir auch ein globales Eisenbahntransportkonzept vorlegen, das als Orientierung für den gesamten Eisenbahnsektor dienen wird – selbstverständlich unter Berücksichtigung aller regionalen Besonderheiten.
Vor über 90 Jahren haben die Eisenbahner der Welt einen internationalen Eisenbahnverband auf der gemeinsamen Wertegrundlage von Einheit, Solidarität und Universalität gegründet. Und wenn der Weg zur Universalität auch noch lang und schwierig sein wird, so können wir uns doch der Einheit und Solidarität sicher sein, und das ist die wichtigste Politik, die der UIC verfolgt. Ich will hoffen, dass sich ein solcher vernünftiger und pragmatischer Geist nicht nur in den nächsten zehn Jahren, sondern auch darüber hinaus erhalten wird.

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Artikel von Interview aus der IV, Ausgabe 4/2014
Artikel von Interview aus der IV, Ausgabe 4/2014