Tobias Heinemann: Verträge müssen Kostensteigerungen berücksichtigen
Seit der Insolvenz von Abellio ist Transdev der größte private Betreiber im SPNV. ETR sprach mit Geschäftsführungs-Sprecher und Mofair-Präsident Dr. Tobias Heinemann über Probleme und Lösungen im Markt.
Zuerst einmal Gratulation: Bisher haben uns zur Inbetriebnahme der S-Bahn Hannover keine Chaos-Meldungen erreicht.
Bei Inbetriebnahmen zeigt sich, wie gut oder schlecht die bestellten Fahrzeuge sind. Hier hilft eine Inbetriebnahme in Stufen, wie sie bei der S-Bahn Hannover und auch bei der zweiten Inbetriebnahme Berchtesgaden – Ruhpolding vereinbart wurde. Wir fahren in diesen Netzen noch nicht alle Linien und können so Schwächen der Fahrzeuge rechtzeitig erkennen und mit den Herstellern abarbeiten, bevor im Sommer die zweite, große Stufe startet.
Von wenig Problemen zu großen Problemen: In NRW müssen 167 Mio. EUR auf den Tisch gelegt werden, um die Verkehre, die Abellio ursprüglich gefahren hat, nach der Insolvenz und dem Scheitern der Verhandlungen mit den Aufgabenträgern bis zum Fahrplanwechsel 2023 aufrechtzuerhalten. War das wirklich notwendig? In anderen Bundesländern wurden ja auch günstigere Lösungen gefunden.
Der Marktaustritt von Abellio ist natürlich eine große Herausforderung für alle Beteiligten. Er wirft die Frage auf, was zukünftig bei Vergaben geändert werden muss, um zu verhindern, dass weitere SPNV-Betreiber angesichts von weiteren Kostensteigerungen ebenfalls aus dem Markt austreten müssen. Natürlich wird es bei Abellio in den letzten Jahren die eine oder andere Entscheidung gegeben haben, die im Rückblick als falsch zu werten ist, weil sich Angebote nicht so gerechnet haben, wie sie ursprünglich von Abellio kalkuliert waren. Doch gibt es im SPNV-Markt unbestritten Kostensteigerungen, die nicht nur Abellio, sondern alle Betreiber im Schienenpersonenverkehr nachhaltig belasten. Die 167 Mio. EUR, die jetzt die Auftraggeber in den kommenden zwei Jahren zusätzlich aufwenden müssen, um den Betrieb in Nordrhein-Westfalen zu stabilisieren, sind der Beweis, dass es diese Kostensteigerungen gibt und dass man vor ihnen nicht einfach davonlaufen kann. Drei Themenblöcke müssen deshalb im SPNV so schnell als möglich strukturell gelöst werden: Personalkosten, Schienenersatzverkehr und Pönalen. Nur dann können Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) wirtschaftlich auskömmliche Angebote machen und diese bis Vertragsende auskömmlich fahren.
Kostensteigerungen müssten doch von Teilnehmern an Ausschreibungen einkalkuliert werden.
Die Kosten, die ich angesprochen habe, waren in der dann eingetretenen Höhe nicht vorhersehbar. Wir beobachten seit 2018, dass die Tarifvereinbarungen, die wir alle als Verkehrsunternehmen abschließen mussten, zu höheren Personalkosten geführt haben. Zum einen wegen höherer Gehaltsvereinbarungen, zum anderen aber auch durch neue tarifliche Regelungen in Bezug auf Ruhepausen, Urlaub und Wochenenddienste. Inzwischen haben wir in Deutschland die Situation, dass die Tarifabschlüsse überall weitgehend gleich sind, dass also ein Lokführer, der bei uns arbeitet, genauso viel verdient und ähnliche Arbeitszeitregelungen hat wie ein Lokführer bei der Deutschen Bahn. Das haben wir gemacht, um das gegenseitige Abwerben von Triebfahrzeugführerinnen und Triebfahrzeugführern einzuschränken. Am Beispiel Regio-S-Bahn Bremen/Niedersachsen bei der Transdev lassen sich die Auswirkungen auf die Personalkosten anschaulich zeigen: 2017 brauchten wir für diese Regio-S-Bahn ziemlich genau 100 Triebfahrzeugführerinnen und Triebfahrzeugführer, um die vereinbarte Leistung zu fahren. Seit dem Tarifabschluss 2018 brauchen wir für exakt denselben Fahrplan 117 Triebfahrzeugführerinnen und -führer, also 17 % mehr Leute. Die Bereitschaft der Auftraggeber, diese zusätzlichen Personalkostensteigerungen im Sektor zu übernehmen, war bisher sehr begrenzt.
Thema Schienenersatzverkehr: Was war hier nicht vorhersehbar?
Die Deutsche Bahn hat mit der Bundesregierung eine Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung abgeschlossen, die deutlich mehr Geld für die Infrastruktur bereitstellt. Das ist grundsätzlich gut. Als Mofair haben wir dies jahrelang gefordert. Doch mit mehr Geld wird mehr gebaut. Weil mehr gebaut wird, sind die Fahrplanverwerfungen im unterjährigen Geschäft deutlich größer als erwartet. Bauen im Netz bedeutet auch, dass ganze Streckenabschnitte am Wochenende gesperrt werden und wir als Betreiber zusätzlich Schienenersatzverkehr einrichten müssen. In den Verträgen ist nicht vorgesehen, dass dieser Schienenersatzverkehr vergütet wird – die erheblichen Kosten tragen wir bisher als Betreiber alleine.
Beim dritten Thema, den Pönalen, geht es wahrscheinlich um die Netzqualität.
Die Schieneninfrastruktur in Deutschland ist wirklich in einem sehr schlechten Zustand. Weil Brücken und Stellwerke so alt sind, ist die Infrastruktur sehr anfällig für Störungen. Wegen dieser Störungen fallen bei den Betreibern Züge aus oder kommen sehr verspätet an, was zu hohen Strafzahlungen an die Auftraggeber führt. Diese Entwicklung konnte nicht in Kalkulationen berücksichtigt werden, die teilweise schon vor mehr als 10 Jahren beim Bieten auf eine Ausschreibung aufgestellt wurden.
Es gibt strukturelle Probleme, die ein einzelnes Verkehrsunternehmen nicht lösen kann.
Ja. Hier gibt es kein Unternehmensversagen, sondern ein Marktversagen. Die öffentliche Hand muss mehr Geld bereitstellen, um attraktive SPNV-Angebote zu finanzieren, damit sich das, was wir in Nordrhein-Westfalen erlebt haben, nie wieder wiederholt.
Müsste man die Art der Ausschreibungen ändern? In einem anderen Zusammenhang wurde darüber diskutiert, dass es besser wäre, wenn ein Auftrag grundsätzlich an den Zweitplatzierten ginge, weil dadurch „realistischere“ Kalkulationen eingereicht würden. Was halten Sie davon?
Das ist eine Möglichkeit. Meiner Ansicht nach bedarf es dieses Schrittes jedoch gar nicht. Die Auftraggeber müssten bei der Prüfung der Angebote nur darauf achten, ob ein Bieter ein ungewöhnlich niedriges Angebot abgegeben hat. Das heutige Vergaberecht gibt den Auftraggebern alle Möglichkeiten, dies zum Anlass zu nehmen, diesen Bieter auszuschließen. Vergaberechtlich nennt man dies „Prüfung eines ungewöhnlich niedrigen Angebotes“.
Warum wird diese Möglichkeit augenblicklich nicht genutzt?
Mein Eindruck ist, dass die Auftraggeber durchaus merken, dass ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist – doch dann nimmt man es doch an, weil man den Einspareffekt mitnehmen will. Das ist der falsche Reflex. Es sollte eine Aufforderung an die Auftraggeber geben, zwingend ungewöhnlich niedrige Angebote auszuschließen.
Wenn ein Bieter benachbarte Netze betreibt, seine Werkstätten günstig liegen etc., dann ist doch durchaus vorstellbar, dass er seriös kalkuliert und trotzdem ungewöhnlich niedrig anbietet.
Es gibt immer Konstellationen, bei denen ein Bieter eine „Pole-Position“ gegenüber anderen Bietern hat. Doch die Differenz ist nie größer als ein einstelliger Prozentwert. Alles, was darüber hinaus geht, ist auffällig und müsste in meinen Augen zwingend ausgeschlossen werden.
2021 wurde zwischen Aufgabenträgern und Verkehrsunternehmen ein bahnspezifischer Personalkostenindex vereinbart. Reicht dies aus, um dem Problem Personalkostensteigerung zu begegnen?
Hier müssen ganz schnell zwei Dinge passieren: Erstens muss in neuen Ausschreibungen ausschließlich dieser Personalkostenindex Anwendung finden. Zweitens muss der neue Personalkostenindex noch 2022 in allen Bestandsverträgen den bisherigen Personalkostenindex 1:1 ersetzen. Dass dies schon mehr als ein halbes Jahr lang nicht geschehen ist, deutet darauf hin, dass offenbar der Kern des Problems immer noch nicht verstanden wurde beziehungsweise der eine oder andere Aufgabenträger fehlgesteuert agiert. Fehlgesteuert deshalb, weil manche Aufgabenträger schlicht und einfach von ihrer jeweiligen Landesregierung zu wenig Budget für den SPNV zur Verfügung gestellt bekommen, um ihren Auftrag zu erfüllen. Ihr Auftrag ist, einen ordentlichen, qualitätsgerechten und funktionierenden SPNV bereitzustellen – und nicht einen, der auf Knirsch geplant ist.
Müsste man eine Standarddefinition haben, was eine angemessene Kalkulation ist, also was ein nachhaltiger Verkehr kosten kann und muss?
Bevor die Auftraggeber eine Ausschreibung veröffentlichen, müssen sie immer eine Einschätzung treffen, was der Verkehr sie im Jahr kosten wird. Hier kann ich nur empfehlen, nicht den spitzesten Bleistift anzusetzen, sondern sehr grozügige Kostensteigerungsannahmen zu hinterlegen, um für den Worst Case gerüstet zu sein. Die bisher genannten Punkte sind ja nicht die einzigen Kostentreiber. Wir werden uns alle als Folge der Energiewende auf deutlich steigende Energiekosten einstellen müssen. Außerdem explodieren weltweit die Materialkosten. Diese Preisexplosion werden wir in den kommenden Jahren bei Instandhaltungskosten und Ersatzteilpreisen spüren. Die Politik wird akzeptieren müssen, dass sie für die gleiche Leistung mehr Geld zur Verfügung stellen muss.
Es gibt seit einigen Jahren das Anreizsystem, bei dem die Ursachen von Verspätungen entweder dem EVU oder DB Netz zugeordnet werden. Über dieses Anreizsystem muss auch DB Netz für Verspätungen zahlen – reicht das aus?
Nein. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, doch die Höhe der Abzüge, die die DB Netz AG auf den Trassenpreis leisten muss, ist gegenüber dem wirtschaftlichen Schaden, der bei den Verkehrsunternehmen entsteht, verschwindend gering. Meines Erachtens müsste das Pönalsystem in den Verkehrsverträgen viel stärker zwischen Eigenverschulden des EVU und Fremdverschulden unterscheiden. Als Geschäftsführer eines Verkehrsunternehmens bin ich durchaus bereit, für eigenverschuldete Verspätungen, beispielsweise weil mein Lokführer zu spät zur Schicht kam oder ein Fahrzeug nicht funktionierte, eine wesentlich höhere Pönale zu zahlen. Denn für die Lokführer und die Fahrzeuge bin ich als EVU zuständig und kann auch die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die Pönalen zu senken. Doch überall, wo ich keinen Einfluss auf die Ursachen nehmen kann, also bei fremdverschuldeten Verspätungen, müsste die Pönale auf Null gestellt werden. Das wäre die richtige Steuerung.
Damit die Pönale als Steuerungsinstrument funktioniert, müsste dann DB Netz die Pönale für die nicht durch das EVU verschuldeten Verspätungen zahlen?
Genau. Als Transdev versuchen wir dies gerade vor Gericht durchzusetzen. Allerdings dauert dies sehr lange. Wir haben die ersten Klagen 2016 eingereicht und erst 2021 gab es die ersten Entscheidungen, die uns übrigens Recht geben. Unser Gerichtssystem ist leider ebenfalls überlastet.
Ein Anliegen der neuen Regierung ist, dass DB Netz gemeinwirtschaftlich wird. Erwarten Sie dadurch Verbesserungen?
Dies ist ein zentrales Anliegen im Koalitionsvertrag und sollte schnellstens umgesetzt werden. Dass DB Netz AG bislang auch ein finanzwirtschaftliches Ziel erfüllen muss, führt zu Fehlsteuerungen und in Folge dessen zu Störungen im Betrieb. Ein einfaches Beispiel: In der Region Osnabrück gibt es nur einen Schienen-Schneepflug. Um Schnee innerhalb von 24 Stunden von den Schienen zu räumen, bräuchte es jedoch drei Maschinen. Nach dem letzten Schneefall war eine Strecke wegen der fehlenden Schneepflüge sechs Tage lang gesperrt. Das muss sich ändern. Die Steuerung von DB Netz muss ausschließlich nach einem Kriterium erfolgen – der Qualität. Die Unternehmen, die auf dem Netz fahren, müssen ihren Fahrplan halten können. Diesem Ziel muss alles untergeordnet werden. Deswegen fordern wir als Mofair, dass mit der Gründung einer gemeinwohlorientierten Schieneninfrastruktur (Netz, Bahnhöfe, Energieleitungen) ein vollständiger Systemwechsel stattfinden muss.
Transdev steigt aus dem eigenwirtschaftlichen Nachtzugangebot aus – warum? Nachtzüge gelten als Zukunftsmarkt.
Das unbestritten gute Segment des Nachtzugverkehrs wird in Deutschland falsch angegangen. Hier gibt es für dieses Segment keine öffentlichen Zuschüsse. Deswegen scheiterte 2021 eine europaweite Ausschreibung eines Nachtzugs zwischen Stockholm/Malmö und Brüssel. Die Regierungen von Schweden, Dänemark und Belgien waren bereit, die geplante tägliche Nachtzugverbindung zu bezuschussen – Deutschland jedoch nicht. Wenn wir alle der Meinung sind, wir sollten das kontinentale Fliegen zugunsten von Nachtzügen einschränken, muss die öffentliche Hand auch bereit sein, Geld zu zahlen. Unsere Forderung ist deshalb, dass das Nachtzugsystem bezuschusst wird, insbesondere wenn wir von einem System reden, das so wahnsinnig hohe Trassenpreise hat, speziell in Deutschland.
Transdev engagiert sich auch im Sektor Vertrieb, unter anderem, weil die Verkehrsausschreibungen „unsicher“ sind.
Wir definieren uns als Verkehrsunternehmen, das die volle Wertschöpfungskette abbildet. Damit sind wir auch in der Lage, einzelne Wertschöpfungsstufen isoliert als Dienstleistung anzubieten. Es gibt in Deutschland den Trend, reine Vertriebsdienstleistungen auszuschreiben. Dies nutzen insbesondere Besteller, die eine breite Palette an Unternehmen für ihre Verkehre nutzen und den Vertrieb auch für den Fall sichergestellt haben wollen, dass eines dieser Unternehmen wegbrechen sollte. Wir werden uns immer an solchen Ausschreibungen beteiligen, weil wir eine gute und verlässliche Vertriebsplattform bei Transdev haben. Wir bieten diese Dienstleistung inzwischen auch anderen EVU an. Auch die Instandhaltung bieten wir, wenn es geografisch passt, als Dienstleistung an.
In Österreich werden mit der Novellierung des Abfallgesetzes auch öffentliche Aufträge im Güterverkehr vergeben. Sollten ähnliche Modelle in Deutschland aufgesetzt werden - würde sich Transdev dann wieder im Güterverkehr engagieren, zumal über die Beteiligung der Rethmann-Gruppe eine Nähe zum Abfall-Sektor besteht?
Als Transdev haben wir uns bewusst vor einigen Jahren aus dem Güterverkehr zurückgezogen, indem wir unsere Cargo-Sparte verkauft haben. Mit dem Eintritt der Familie Rethmann verfügen wir innerhalb der Transdev-Gruppe mit Rhenus über einen Logistiker und mit Rhenus Rail über eine Güterbahn. Sollten die erwähnten Trends zunehmen, würde immer unsere Schwestergesellschaft Rhenus aktiv. Innerhalb der Transdev-Deutschland haben wir augenblicklich kein Interesse, wieder in den Güterverkehr einzusteigen, sondern konzentrieren uns auf den Personenverkehr, auf der Schiene wie auf der Straße.
Transdev engagiert sich auch beim autonomen Fahren.
In der Transdev-Gruppe sind wir überzeugt, dass der Anteil des autonomen Fahrens in den kommenden Jahren global stark steigen wird. Leider gibt es in Deutschland bisher kaum Aufgabenträger, die bei Ausschreibungen auf autonomes Fahren setzen – hier sind Frankreich und die Niederlande wesentlich weiter. Wir sind bereit, in Deutschland, aufbauend auf den technischen Entwicklungen der Transdev-Gruppe, ebenfalls autonome Pilotprojekte aufzustellen.
Eine private Frage: Welche Folgen hatte Corona für Sie persönlich?
Die Pandemie ist weiterhin die gewaltigste Herausforderung meines bisherigen Berufslebens. Persönlich sind meine Familie und ich bisher unbeschadet durch diese Krise gekommen. Ein großes Dankeschön gilt dabei den Möglichkeiten zur Impfung.
Das Interview aus der Eisenbahntechnischen Rundschau 3/2022 führte Dagmar Rees.