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Tarek Al-Wazir: Man muss in großen Zeiträumen denken

Tarek Al-Wazir; Quelle: Oliver Rüther / HMWEVW

Tarek Al-Wazir ist seit 2014 Wirtschafts- und Verkehrsminister in Hessen und auch für Energie zuständig. Im ETR-Interview beschreibt Al-Wazir Möglichkeiten und Grenzen einer Landes-Verkehrspolitik.

Das Land Hessen verwirklicht eine ganze Reihe an Infrastrukturmaßnahmen, die Engpässe im Schienennetz beheben sollen und besonders die Kapazität im Ballungsraum Rhein-Main erhöhen. Haben Sie ein Lieblingsprojekt?

Das Land Hessen selbst baut keine Schieneninfrastruktur. Das tun die Bahn und die kommunalen beziehungsweise regionalen Infrastrukturunternehmen. Das Land tritt also nur als Förderer auf; diese Rolle aber nutzen wir sehr engagiert, um auf einen Ausbau der völlig überlasteten Schieneninfrastruktur in Hessen hinzuwirken. Leider muss man dabei in großen Zeiträumen denken, aber inzwischen werden die Erfolge konkret sichtbar: Mit dem Ausbau des Homburger Damms ist der Zulauf auf den Frankfurter Hauptbahnhof deutlich verbessert worden, der neue Frankfurter Flughafenstadtteil Gateway Gardens wurde an die S-Bahn angeschlossen, die S-Bahn-Linie 6 nach Bad Vilbel erhält zusätzliche Gleise, die Ende nächsten Jahres fertig sein sollen. Und seit Kurzem wird am ersten Abschnitt der RTW, der Regionaltangente West, gebaut – die erste regionale Schienenverbindung, die nicht über den Frankfurter Hauptbahnhof verläuft, und der erste Schritt zu einem Schienenring um Frankfurt. Das eröffnet neue Perspektiven. Über die RTW wurde jahrzehntelang diskutiert, sie stand mehrmals kurz vor dem Scheitern, und ich habe 2014 entschieden, dass das Land der Planungsgesellschaft beitritt und damit ein klares Bekenntnis zum Projekt abgibt. Insofern ist das sicherlich eines meiner Lieblingsprojekte.

Der Fernbahntunnel Frankfurt ist in Planung. Augenblicklich wird die Südvariante bevorzugt, die zu weiten Teilen unter dem Main geführt wird. Sie haben den Tunnel begrüßt – auch, weil er mehr Platz schafft im Hauptbahnhof für Regionalzüge. Wäre das Land Hessen bereit, zusätzlich Geld zur Verfügung zu stellen, um Vorplanung und eventuell auch Umsetzung zu beschleunigen?

Der Fernbahntunnel ist noch in weiter Ferne, der Bau wird voraussichtlich nicht vor 2030 beginnen. Zuerst einmal ist es ein Fernverkehrsprojekt, also Sache des Bundes. Eine finanzielle Beteiligung des Landes kommt da in Betracht, wo es um den Regionalverkehr geht. Da sind wir bei vielen großen Projekten bereits aktiv, und weitere werden noch hinzukommen. Verweisen möchte ich hier zum Beispiel auf die oben genannte S6, die Nordmainische S-Bahn nach Hanau oder die Anbindung des Terminals 3 des Frankfurter Flughafens. Weiterhin fördern wir Streckenausbauten und Elektrifizierungen beispielsweise im regionalen Umfeld von Frankfurt oder auch die Erweiterung von Stadt- und Straßenbahnnetzen. Natürlich haben wir auch sehr großes Interesse am Zustandekommen des Projekts Fernbahntunnel. Denn neben der verbesserten und schnelleren Anbindung im Fernverkehr setzt der Fernbahntunnel auch erhebliche, dringend benötigte Kapazitäten auf den bestehenden Strecken frei, die wir für zusätzlichen Nahverkehr nutzen können und wollen. Es ist also etwas ganz anderes als Stuttgart 21, sondern eher vergleichbar mit der Züricher Lösung, es gibt am Ende nicht weniger, sondern mehr Gleise am Frankfurter Hauptbahnhof.

Von welcher mittelfristigen Entwicklung des SPNV in Rhein-Main gehen Sie nach Corona aus? Setzt sich der Vor-Pandemie-Wachstumspfad fort, oder müssen die Prognosen nach unten korrigiert werden, weil Menschen häufiger im Homeoffice arbeiten?

Das lässt sich gegenwärtig noch nicht seriös abschätzen. Gewiss müssen wir damit rechnen, dass die Menschen künftig weniger häufig an den Arbeitsplatz fahren, aber dafür öfter Freizeitverkehre auch abends in die Zentren gehen. Die Menschen werden weiter mobil sein, die Frage ist: Womit fahren sie? Ich bin überzeugt, dass wir mit einem guten Angebot, mit modernen und komfortablen Fahrzeugen, schnellen Verbindungen, dichtem Takt, guter Vernetzung und einfachen Tarifen Autopendlerinnen und -pendler zum Umstieg bewegen, also den ÖPNV-Anteil an der Mobilität steigern können.

Das Land hat eine Tariferhöhung von 4 % vorgeschlagen – die Verbünde sind dagegen. Widerspricht eine Erhöhung nicht auch dem Ziel, mehr Menschen neu zum beziehungsweise zurück in den ÖPNV zu bringen?

Der Preis ist nicht das allein entscheidende bei der Frage, wie möglichst viele Menschen den ÖPNV nutzen. Die bis zur Coronapandemie zu verzeichnende Zunahme der Nutzerinnen und Nutzer haben wir ja nicht mit Dumpingpreisen erzielt. Sondern mit einer Verbesserung des Angebots, die über eine maßvolle, aber fast immer unter der allgemeinen Teuerungsrate bleibende Tarifsteigerung finanziert wurde. Wir haben also die Finanzierung aus Steuermitteln in den letzten Jahren schon deutlich gesteigert, aber auf einen gewissen Anteil der Fahrgäste können wir nicht verzichten, und neben dem Preis sind Komfort, Angebot und Angebotsqualität mindestens ebenso wichtig.
Wenn die Verkehrsunternehmen in der jetzigen Situation sprunghafter Kostensteigerungen auf eine Tarifanpassung verzichten, müssen sie am Angebot sparen. Das könnte der Einstieg in eine Abwärtsspirale sein. Momentan ist die größte Aufgabe, das Angebot trotz der finanziellen Probleme durch die Coronapandemie aufrecht zu erhalten und später weiter zu steigern. Aber natürlich bleibt meine Vision, den hessischen Weg der günstigen Flatrate-Angebote bei Jahreskarten nach Einführung des Schülertickets Hessen 2017, dem Landesticket Hessen als Jobticket für die Landesbeschäftigten 2018 und dem Seniorenticket Hessen 2020 Schritt für Schritt weiter zu gehen, bis wir die Vision des Bürgertickets Hessen für alle erreicht haben.

Die Verdoppelung der Fahrgastzahlen ist vor allem im Eisenbahnpersonenverkehr ein zentrales Ziel. Verbesserungen bei Pünktlichkeit und Verlässlichkeit mit Blick auf Anschlüsse sind wichtige Kriterien, die bei der Entscheidung eine wichtige Rolle spielen. Wie kann das erreicht werden? Brauchen wir mehr Überholgleise? Dichtere Takte? Kann den Herausforderungen überhaupt auf Landesebene begegnet werden?

Die Schieneninfrastruktur gehört ganz überwiegend dem Bund. Nur er kann die Kapazitätsengpässe auflösen. Und es ist auch der Bund, der den Ländern die Mittel für den regionalen Schienenverkehr zur Verfügung stellt. Die Länder können hier allenfalls flankieren.

Die städtische Mobilität ist vielerorts gut organisiert. In Städten wie Frankfurt kommt oft alle zwei bis drei Minuten eine Bahn oder ein Bus. Im ländlichen Raum liegt der Anteil von Bussen und Bahnen am Modal Split nur bei 5 %. Wie könnten Takte hier dichter werden?

Dichtere Takte erfordern mehr Fahrzeuge, mehr Personal und mitunter – etwa im überlasteten Schienennetz des Rhein-Main-Raums – auch zusätzliche Gleise. Dafür brauchen wir Geld, das nicht allein über den Fahrkartenverkauf erlöst werden kann. Die neue Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag zugesagt, die Regionalisierungsmittel ab 2022 zu erhöhen. Das ist ein gutes Signal, muss aber jetzt auch kommen. Genauso wichtig ist die Absicht, sich mit den Ländern über die Finanzierung bis 2030 zu verständigen. Das gibt Planungssicherheit, die wir dringend brauchen.
Der Nordhessische Verkehrsverbund NVV weitet sein Angebot seit Jahren aus, hin zur Vision: Jedes Dorf, jede Stunde. Wir sind nach dem Saarland im Bundesländervergleich der Allianz pro Schiene das Flächenland mit dem besten Angebot auch in der Fläche. Aber das muss eben auch finanziert werden.

Sie haben sich kürzlich skeptisch zum Vorschlag einer Landesgesellschaft zur Planung von Schienenprojekten geäußert. Warum?

Der Grund ist sehr einfach: Für eine solche Gesellschaft gäbe es kaum Arbeit. In Hessen haben wir ungefähr 2800 Schienenkilometer. Der allergrößte Teil davon ist in der alleinigen Zuständigkeit des Bundes. Es bleiben 400 Kilometer im Besitz von Städten und Kreisen; zwei Drittel davon haben aber nur jeweils eine einzelne Stadt oder einen einzelnen Kreis als Eigentümer. Lediglich das verbleibende Drittel hat zwei oder mehr Eigner und käme als Betätigungsfeld einer Landesgesellschaft überhaupt in Frage. Dafür lohnt sich eine Landesgesellschaft nicht. Wenn übergreifende Projekte zu entwickeln sind, lässt sich das mit regionalen Planungsgesellschaften effizient regeln – das sehen wir ja bei der Regionaltangente West.

„An Hessen führt kein Weg vorbei“, lautet ein Slogan der Landeswerbung. Dies ist im Personenverkehr ein Vorteil, weil es den Ballungsraum Rhein-Main und das Wirtschaftszentrum Frankfurt leicht erreichbar macht. Bei Durchgangsgüterverkehr ist dies jedoch von Nachteil. Sehen Sie Projekte, oder wünschen Sie sich Projekte, die mittel- und langfristig den Schienengüter-Transitverkehr durch Hessen reduzieren würden? Würden Sie sich finanziell daran beteiligen wollen, auch wenn die Maßnahme in einem anderen Bundesland oder sogar EU-Land umgesetzt würde (beispielsweise Ausbau linksrheinische Infrastruktur in Frankreich)?

Natürlich haben wir uns dafür eingesetzt, dass der Bund auch eine Machbarkeitsstudie für eine linksrheinische Alternative zum Mittelrheintal anstößt. Aber ich verweise auf das Grundgesetz: Hessen hat keine Möglichkeit, Fernverkehrsvorhaben zu fördern.

Hohe Anforderungen für den Ausbau der Infrastruktur bei Planung und Genehmigung führen oftmals zu Verzögerungen. Welche Initiativen sind von Seiten des Bundes nötig, um die Länder in diesem Bereich zu entlasten? Oder bedarf es sogar weitergehender Initiativen, die auf EU-Ebene angestoßen werden müssen?

Die Verzögerungen bei der Schieneninfrastruktur beruhen wesentlich darauf, dass der Bund in den vergangenen Jahren zu wenig Geld in Ausbau und Erhalt investiert hat. Ich bin mehr als froh, dass die neue Bundesregierung höhere Investitionen versprochen hat, ebenso wie eine Verkürzung der Planungs- und Realisierungszeiträume. Denn das ist in der Tat ein wichtiger Punkt. Dass die neue Bundesregierung dabei zentrale, unser Bundesland betreffende Vorhaben wie diejenigen im Korridor von Mannheim über Frankfurt, den Fernbahntunnel Frankfurt und den Ausbau von Hanau über Fulda bis nach Erfurt prioritär umsetzen will, freut mich ebenfalls sehr. Ich habe die Dialogverfahren der Deutschen Bahn für diese Projekte gerne unterstützt; für alle Vorhaben in diesem Korridor gibt es jetzt Trassenvorschläge, und die Raumordnungsverfahren beziehungsweise teilweise schon Planfeststellungen laufen. Jede weitere Beschleunigung ist da natürlich hilfreich.

Der Einfluss von Bürgerinitiativen hat in den vergangenen Jahren immer mehr zugenommen. Einige innerstädtische Schienenprojekte wurden so zu Fall gebracht. Oder wichtige Infrastrukturprojekte sollen zwar gebaut werden, werden aber erheblich verzögert. Zu den Lösungsvorschlägen gehört neben einer früheren Einbindung der Bürgerinnen und Bürger etwa die Digitalisierung von Beteiligungsprozessen oder auch eine verbindliche Stichtagsregelung, die vorsieht, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt keine „Einflussnahme“ mehr möglich ist. Sind das sinnvolle Instrumente? Oder braucht es ein weitergehendes Umdenken? Was sind Ihre Erfahrungen?

Bürgerinitiativen sollten nicht nur als Störfaktoren gesehen werden. Sie artikulieren Wünsche, Interessen, Befürchtungen. Konflikte resultieren in der Regel nicht aus zu wenig Bürgerbeteiligung, sondern aus der Art und Weise, wie diese Beteiligung in der Vergangenheit praktiziert wurde: Nämlich zu spät und nur auf individuelle Betroffenheit fokussiert. Versäumt wurde, mit den Bürgerinnen und Bürgern schon vor Beginn des formellen Planungsverfahrens über das grundsätzliche Wie und Warum eines Großvorhabens zu diskutieren. Das ist erst seit einigen Jahren möglich.
In Hessen praktiziert es die Bahn bei ihren Fernverkehrsprojekten, etwa dem von Mannheim bis Erfurt, und die Erfahrungen sind gut. Klar ist aber auch: Nicht jeder Wunsch kann erfüllt werden. Die Summe aller Einzelinteressen ist noch nicht das Gemeinwohl.

Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine und den Sanktionen gegen Russland erhält Energiesparen und das Streben nach einer größeren Autarkie bei der Energieversorgung eine neue Dringlichkeit – verschieben sich für Sie die Prioritäten in der Verkehrspolitik in und für Hessen?

Nein. Wir arbeiten seit Jahren daran, unser Land unabhängig von fossilen und atomaren Energieträgern zu machen – auch in der Mobilität. Um zu wissen, dass es eilig ist, hätte es den Ukrainekrieg nicht gebraucht. Die Berichte des Weltklimarats hätten Antrieb genug sein müssen. Aber vielleicht verstehen jetzt mehr Menschen, dass es bei der Verkehrswende nicht nur um Lebensqualität und Luftreinhaltung geht, sondern insgesamt um die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft.

Eine private Frage: Was hat Corona für Sie persönlich verändert?

Der Kreis der Menschen, die man persönlich sieht, hat sich stark eingeschränkt. Ich habe immer geahnt, dass Online-Meetings zwar praktisch sind, aber kein vollwertiger Ersatz für die persönliche Begegnung sein können – jetzt weiß ich es. Deshalb bin ich mir auch sehr sicher, dass wir nach wie vor einen attraktiven und leistungsfähigen ÖPNV benötigen werden. Kaum jemand will immer nur zu Hause sitzen.
 

Das Interview aus der Eisenbahntechnischen Rundschau 6/2022 führte Dagmar Rees.

 

Artikel Redaktion Eurailpress
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