Rolf Härdi: Digital Twin - Ein digitales Abbild der DB
Rolf Härdi ist als Chief Technology Innovation Officer CTIO der Deutschen Bahn (DB) für die Digital Twin-Strategie verantwortlich, mit der das Unternehmen die Datenschätze in seinen Assets heben und zur Erhöhung von Zuverlässigkeit und Wirtschaftlichkeit nutzen will.
Warum hat die Deutsche Bahn eine Digital Twin-Strategie?
Der Digital Twin ist eine wichtige Grundlage der Digitalisierung und somit eine Schlüsselfunktion der Starken Schiene. Unser Ziel ist es, ein virtuelles Abbild der ganzen DB zu bekommen. Der Digital Twin sagt uns nicht nur, wo wir gerade stehen, sondern dient auch dazu, Voraussagen für die Zukunft zu treffen und verschiedene Szenarien zu untersuchen. So können wir beispielsweise die Wartung zustandsbasiert umsetzen. Wenn ich beispielsweise bei einem Fahrzeug genau weiß, wie sich die Komponenten und Subsysteme in jeder Situation verhalten, wie sie sich verändern und wie sie sich abnutzen, dann kann ich mit dem Digital Twin vorausschauende Analysen fahren und Instandhaltungsszenarien simulieren. In Kombination mit externen Einflüssen wie dem Wetter und der gefahrenen Geschwindigkeit können wir Rückschlüsse ziehen und feststellen, wo wir uns verbessern können. Dadurch erhöht sich die Verfügbarkeit und Wirtschaftlichkeit unserer Assets und somit auch unser Service für den Kunden.
Das Konzept eines Digital Twins beinhaltet, dass permanent Daten von Assets wie Fahrzeugen oder Weichen erhoben, übermittelt und ausgewertet werden. Stattet die DB jetzt alles mit Sensoren aus?
In ihrem strategischen Ansatz fokussiert sich die DB nicht primär auf die Installation von Sensorik, weil sie oft schon vorhanden ist. Heutige Züge haben bereits eine Vielfalt von Sensorik eingebaut – in gewissen Bereichen fast zu viele. Zum Beispiel wird die Umgebungstemperatur oder Geschwindigkeit des Zuges von einer Vielzahl von Subsystemen unabhängig voneinander gemessen. In erster Linie geht es uns darum, Zugang zu den Daten dieser Sensoren zu bekommen, nicht nur bei Fahrzeugen, sondern auch bei der Infrastruktur oder unseren Bahnhöfen. Das ist die große Herausforderung.
Über die Notwendigkeit, Zugang zu Daten zu erhalten, spricht der Sektor schon lange. Warum ist dies so schwierig?
Es gibt technische und rechtliche Hürden. Technische Hürden sind beispielsweise die hierarchischen, proprietären Bus-Systeme in Fahrzeugen. Um von einer Hierarchieebene zur anderen zu gelangen, müssen Gateways passiert werden - das ist nicht immer einfach möglich und führt zu Softwareänderungen. Außerdem gibt es das Problem unzureichender Bandbreite: Die in Bestandsflotten integrierten Bus-Systeme stammen meist aus älteren Technik-Generationen und können größere Datenmengen gar nicht in der benötigten Menge transportieren. Wenn der Ansatz wäre, jede Information von jedem Sensor verfügbar zu haben, dann ist das mit diesen Systemen technisch fast nicht möglich. Deshalb muss gezielt zu einem definierten Zeitpunkt eine definierte Information von einem definierten Subsystem abgerufen werden können. Auch brauchen wir eine vernünftige Balance zwischen Cloud und Edge Anwendung. Dies gilt es jetzt auszuarbeiten. Hier sind wir in guter partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit der Industrie. Die Kultur, aber auch die rechtlichen und kommerziellen Rahmenbedingungen für die Digital Twins zu schaffen, sehen wir als die eigentliche primäre Aufgabe an.
Was sehen Sie als die notwendigen rechtlichen und kommerziellen Rahmenbedingungen für Digital Twins?
Dass wir Zugang zu den Daten brauchen, werden wir in neuen Ausschreibungen klar und eindeutig festlegen. Das Schöne an Daten ist: Sie müssen nicht mir oder jemand anderem gehören, sondern man muss in erster Linie die Nutzung regeln, also den uneingeschränkten Zugang. Damit die Zusammenarbeit gelingt, müssen unsere Partner darauf vertrauen können, dass ihre Daten bei uns geschützt sind, sowohl technisch, Stichwort Cybersecurity, als auch vor unberechtigter Nutzung, Stichwort Intellectual Property Rights (IPR). Und nicht zuletzt müssen auch unsere Partner einen Vorteil von der gemeinsamen Datennutzung haben – wir müssen also Win-Win- Situationen schaffen.
Bei Instandhaltung und Wartung haben Hersteller und DB oft unterschiedliche Interessen: Die Hersteller möchten möglichst den Service selbst übernehmen, da hier die Margen gut und die Erträge stetig sind. Die DB dagegen möchte die eigenen Werkstätten beibehalten. Wie entstehen hier Win-Win-Situationen?
Wer was an Maintenance macht oder machen wird. ist eine spannende Frage. Ich denke, dass uns erst die Digitalisierung ermöglicht, als Sektor enger, agiler und effektiver zusammenzuarbeiten. Das primäre Ziel ist, die Bahn effizienter und attraktiver zu gestalten und somit die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Dafür müssen wir uns einsetzen. Es wird auch in Zukunft keine Standardlösung geben: Die DB wird die Maintenance weiterhin in eigenen Werkstätten umsetzen, aber auch Aufgaben an die Hersteller vergeben, wenn diese besser und effizienter erledigt werden können. Durch einen Digital Twin hat jeder die erhobenen Daten zur Verfügung und kann sie für seine und gemeinsame Analysen und für seine Produktentwicklungen verwenden. Die motivierende Paneldiskussion Digital Twin am DB Railway Forum haben gezeigt dass die Industrie die gemeinsame Chance erkennt und hierfür absolut bereit ist.
Wie kommen Sie mit der Umsetzung der Digital Twin Strategie voran?
Wir haben verschiedene Projekte bei einzelnen Komponenten oder Subsystemen, bei denen wir die soeben beschriebenen Partnerschaften schrittweise aufbauen nach dem Motto: „Wir öffnen uns, ihr öffnet Euch.“ Ein Beispiel ist EWA das Projekt Each Wheelset Available, bei dem optische Erkennung eingesetzt wird. Infrastrukturseitig installierte Laser tasten die Räder vorbeifahrender Züge ab und messen so den Verschleiß der Räder. Diese Information speisen wir in einen Digital Twin ein. Mit einem KI-Modell, das wir entwickelt haben, prognostizieren wir den weiteren Verschleiß der Radsätze, so dass wir genau wissen, welcher Radsatz wann eine Überdrehung braucht oder ausgetauscht werden muss. Diese Information integrieren wir in unser ERP-System. Ein ähnliches Projekt haben wir auch für Türen gestartet. So skalieren wir mit wachsender Erfahrung Schritt für Schritt. Unser seit drei Jahren erfolgreiches konzernübergreifendes Technologiestrategieumsetzungsprogramm „TecEX“ liefert uns hierbei schon wichtige Grundlagen im Rahmen der CBM und Asset Intelligent Projekte, die wir umgesetzt haben. Der nächste Schritt ist ein Digital Twin für ein komplettes Fahrzeug. Dieses große Pilotprojekt ist wirklich wichtig, um in einem abgegrenzten sicheren Projekt zu beweisen, dass Win-Win funktioniert. Hier sind wir gut vorangekommen aber noch in Abstimmung mit dem Sektor, also kann ich noch nicht zu viel darüber verraten. Das Pilotprojekt soll als Vorlage und Motivation für weitere Implementation von Digital Twins mit anderen OEMs dienen.
Wenn der Pilot mit dem kompletten Digital Twin erfolgreich ist und die DB Digital Twins umfassend ausrollt, würde dies erhebliche Investitionen erfordern?
Das weiß ich erst, wenn wir den Digital Twin umgesetzt haben. Stand heute würde ich sagen: Wir müssen investieren, aber nicht in erheblichem Umfang. Wir bewegen uns in der Cloud, die Daten sind wie beschrieben grundsätzlich schon vorhanden. Investieren müssen wir vor allem in Analytics und Prozesse. Allerdings müssen wir ein System aufbauen, wie wir alle mechanischen Komponenten unserer Assets automatisch identifizieren können. Denn nur so können wir komponentengenau Aussagen treffen. Das ist heute noch nicht durchgängig möglich. Deshalb führen wir augenblicklich das Projekt „Tag for Trace“ durch, bei dem wir gezielt untersuchen und pilotieren, wie wir durch RFID-Chips mechanische Teile wie beispielsweise Räder eindeutig identifizieren können. Es kommen aber auch andere Technologien zum Einsatz. Bei dem Pilot-Digital Twin werden wir jede Komponente so taggen.
Verwenden Sie dabei bestehende Identifikationssysteme für die Vergabe von ID-Kennungen oder entwickelt die DB eigene IDs?
Wir verwenden die internationalen Standards.
Digital Twins setzen eine beständige und zuverlässige Kommunikation zwischen Assets und Datenservern voraus. Ist die hierfür notwendige Infrastruktur in ausreichender Qualität vorhanden, z.B. beim Mobilfunk?
Grundsätzlich gilt: Wir brauchen nicht jede Information in Echtzeit. Die Umgebungstemperatur beispielsweise muss nicht jede Sekunde abgegriffen werden – so schnell ändert sie sich nicht. Viele Daten können auch schon auf dem Fahrzeug selbst aggregiert und analysiert werden (Edge), so dass nicht immer reine Sensordaten übertragen werden müssen. Dennoch ist die Datenübertragung auch mit Blick auf den steigenden Bedarf an Daten eine wachsende Herausforderung. Für die Menge an Informationen, die wir nutzen wollen, brauchen wir leistungsstarke Kommunikationskanäle. Bei den ortsfesten Assets könnten wir rein technisch gesehen Kabel verlegen – es stellt sich jedoch die Frage der Wirtschaftlichkeit. Hier ist über kabelunabhängige Systeme nachzudenken. Bei Fahrzeugen wird für die Datenübertragung eine Form des Mobilfunks benötigt. Hier wird eine laufende Implementierung von 5G in Kombination mit WLAN und 4G eine entscheidende Rolle spielen.
Setzen Sie für die Zukunft hauptsächlich auf 5G im gesamten Netz?
5G ist für uns sehr wichtig. Wir werden mit einer Kombination von traditioneller Mobilfunktechnik für die Bahnen, also GSM-R, und dem neuen Standard 5G arbeiten. GSM-R und die Nachfolgetechnik FRMCS haben durchaus noch Kapazität – hier könnte man stationär auch in Kombination mit WLAN arbeiten. Bei 5G ist die Streckenabdeckung ein großes Thema. Bis wir eine 100prozentige 5G-Abdeckung im Streckennetz haben werden, wird noch einige Zeit vergehen. Deswegen sind für uns mit Blick auf die Diagnosedaten die sogenannten Campus-Netze sehr wichtig, bei denen lokal begrenzt 5G-Netze aufgebaut werden. Diese 5G-Campus-Netze werden wir für unsere Werkstätten schaffen, aber auch an Bahnhöfen und anderen strategischen Punkten. Daten, die nicht in Echtzeit gebraucht werden, könnten dann in regelmäßigen Abständen in diesen Campus- Netzen heruntergeladen werden.
Wird es einen Super-Server geben, bei dem alle Daten aus den Assets zusammenlaufen, um einen Digital Twin für die ganze DB zu bilden?
Wir arbeiten prinzipiell in der Cloud. Ziel ist es, für jedes Fahrzeug, jeden Bahnhof, jeden Infrastrukturbestandteil, jeden Geschäftsbereich der DB eigene Digital Twins zu schaffen. Am Ende geht es darum, das Ganze zu einem Ökosystem zusammenzuführen und so einen umfassenden DB-Digital Twin zu schaffen. Wenn wir diesen haben, können wir ganzheitlich und fundiert, das ganze System umfassend, analysieren, planen und verbessern. Es gibt also keinen Super-Server, sondern ein offenes System, in dem alle ihre Informationen eingeben und alle die Informationen kombinieren können.
Das Interview aus Eisenbahntechnische Rundschau 11/2020 führte Dagmar Rees.