Prof. Stephan Rammler: Wir brauchen ein anderes Narrativ
Prof. Stephan Rammler will, dass das System Bahn im Zentrum der Verkehrspolitik steht, da der schienengebundene Verkehr am effizientesten knappe Ressourcen wie Fläche und Energie nutzt. Als Politologe forscht er zu Verkehr, Zukunft und Veränderung. Der Sektor müsse ein gemeinsames Narrativ entwickeln, fordert Rammler.
Auch ohne den Coronavirus passen schon seit längerem die Planungszeiträume des Schienenverkehrssektors nicht mit der Schnelligkeit zusammen, mit der sich andere, die Gesellschaft verändernde Technologien entwickeln. Das Smartphone beispielsweise ist gerade einmal 13 Jahre alt. Im Vergleich dazu wird für die Einführung von ETCS in Deutschland ein Zeitplan von über 20 Jahren ausgegeben. Wie wird die Mobilität im Jahre 2040 aussehen?
Mit ETCS beschäftige ich mich schon seit 18 Jahren. Schon damals, als ich zum Professor für Transportation Design an der HBK Braunschweig berufen wurde, war die Technologie nicht mehr neu. Heute soll es noch einmal 20 Jahre dauern, bis sie eingeführt ist – das ist tatsächlich ein langer Zeitraum. Doch wir haben beim System Bahn aus technik-soziologischer Perspektive mit einem großtechnischen System zu tun. Großtechnische Systeme sind, einmal installiert, ein Datum: Alle nachfolgenden Innovationen müssen auf ihnen aufbauen. Jeder Innovationsprozess bei der Eisenbahn ist ein Produkt des Vorhandenen, es gibt kein Tabula Rasa. Der Verkehrswissenschaftler Fritz Voigt nannte dies den Anteludial-Eff ekt. In den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sprechen wir von Pfadabhängigkeit. Vor 100 bis 150 Jahren, als die Eisenbahninfrastruktur in Deutschland aufgebaut wurde, war dies noch anders. Doch heute ist das Eisenbahnsystem in Deutschland und Europa hochgradig pfadabhängig.
Eignet sich das vorhandene System als Basis für die erforderlichen Investitionen?
Das System, das wir haben, ist ineffizient und nicht zureichend. Es ist infrastrukturell massiv unausgestattet und kann die Bedarfe nicht decken, weder in der Logistik noch im Personenverkehr. Innovationen müssten sehr viel schneller umgesetzt werden, doch großtechnische Systeme unter Volllast zu ändern ist schwer. Hinzu kommt, dass großtechnische Systeme nicht durch ein unreguliertes Zusammenspiel von Marktkräften transformiert werden können. Hier gilt das Primat der Politik, die die notwendigen Prozesse schnell, konzentriert und kooperativ steuern muss. Dies sehe ich in Deutschland nicht.
Was sollte geschehen?
Der Schienensektor, doch allen voran der Bundesverkehrsminister, sollte ein plausibles Narrativ erzeugen, das da lautet: Wir brauchen eine Nachhaltigkeitstransformation, sei es wegen des Klimaschutzes, wegen Ressourcenknappheit oder der sich immer mehr verdichtenden Städte. Die Veränderung der Mobilität im 21. Jahrhundert ist die Hauptaufgabe, sie ist das paradigmatische Transformationsfeld. Mobilität ist also nicht eines von vielen Bedürfnissen, sondern die Basis der Veränderung. Wenn wir hier nicht die Transformation schaffen, sind alle anderen Bemühungen obsolet. Mobilität ist deshalb so schwierig zu gestalten, da sie so sehr im Zentrum steht.
Für die Nachhaltigkeitstransformation und die Mobilität im 21. Jahrhundert brauchen wir die Eisenbahn?
In der Verkehrsforschung wissen wir seit 30 bis 40 Jahren, dass die Schiene das flächeneffizienteste und nachhaltigste System ist. Gemessen an den Anforderungen der Nachhaltigkeitstransformation ist das System Bahn regional, überregional und international das klügste System. Österreich macht es richtig: Die Verkehrsministerin sagt, wir machen die Bahn zum Mittelpunkt unseres Systems, wir machen die Bahn zum Mittelpunkt unserer Verkehrspolitik, die Verkehrspolitik zum Mittelpunkt unserer Nachhaltigkeitspolitik und die Nachhaltigkeit zum Mittelpunkt unserer Politik insgesamt. Dieses Narrativ möchte ich auch in Deutschland hören. Deutschland war historisch betrachtet eines der ersten Bahnländer. Wir waren verkehrstechnologisch immer weit vorne, bei den Autos wie bei den Bahnen. Doch jetzt verlieren wir bei den Bahnen den Anschluss.
Es gibt Aussagen, dass die Verlagerung von Verkehr von der Straße auf die Schiene im Sinne des Klimaschutzes nicht die effektivste Lösung wäre, vielmehr sei es wirkungsvoller, die Antriebe bei PKW und LKW zu verändern.
Dies ist das Gegennarrativ, politisch gesteuert und von Interessen des Automobil-Sektors geleitet. Es ist ein Narrativ aus der Logik einer existierenden Pfadabhängigkeit heraus. Es sagt, wir müssen nur die Technologien, die wir in den vergangenen 100 Jahren entwickelt haben, optimieren. Es sagt, dass wir keine große Transformation brauchen und keine Infrastrukturerneuerung. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist dies ein kompletter Humbug. Doch natürlich müssen wir zur Kenntnis nehmen dass sich Deutschland irgendwann einmal von einem Bahnland zu einem Autoland entwickelt hat. Und wahrscheinlich müssen wir beide Wege beschreiten, denn wir könnten die notwendige Verlagerung gar nicht so schnell umsetzen, wie es uns die Klimaschutzziele vorgeben, weil die Kapaziät auf der Schiene nicht ausreicht. Selbst DB-Cargo Chefin Sigrid Nikutta, deren dynamische Art ich sehr schätze, wird es nicht schaffen, in fünf Jahren einen signifikant höheren Anteil von Gütern auf die Schiene zu bekommen. Deshalb sind wir, unabhängig vom automobilen Gegennarrativ, und der Motive, die dahinterstecken, wahrscheinlich tatsächlich gezwungen, auch bei den Antrieben von LKW und PKW schnell etwas zu ändern, wollen wir die Klimaschutzziele erreichen. Auch wird man in bestimmten Regionen weiterhin Mobilität von Menschen und Gütern nur im Individualverkehr umsetzen können. Wir leben in einer hochgradig individualisierten und differenzierten Gesellschaften und können nicht alle Bedürfnisse über die Schiene befriedigen. Doch wir müssen mehr als heute darüber verhandeln, dass dies geschieht und die notwendige Infrastruktur bereitstellen. Das Geld ist da. Es muss ein großes Apollo-Projekt für die Bahn entstehen.
Was würden Sie sich konkret an Maßnahmen wünschen?
Ich würde mir das Narrativ wünschen, das ich zuvor umrissen habe: Dass wir die Bahn als Basis unseres Verkehrssystems ausbauen, weil dies die einzige plausible Lösung ist für die Nachhaltigkeitstransformation. Doch das versteht im Verkehrsministerium, zumindest auf der oberen Führungsebene, niemand. Der Verkehrsminister funktioniert Lobby-getrieben und hat ein unterkomplexes Realitätsverständnis. Das CSU betriebene Verkehrsministerium war schon immer stark von der Autolobby beherrscht. Ich wünschte mir, dass im Verkehrsministerium verstanden wird: Die Zukunft der Mobilität ist intermodal und der Schienenverkehr spielt eine zentrale Rolle.
Reicht ein Narrativ, also eine immer wiederholte sinnstiftende Erzählung, aus, um Verhaltensänderungen herbeizuführen, die notwendig sind.
Der ehemalige Umweltminister Klaus Töpfer hat kürzlich gesagt, dass in der Politik Emotionen Fakten sind. Als Politiker muss ich, wenn ich etwas im Sinne der Nachhaltigkeit tun will, Emotionen ansprechen und nicht nur die Emotionen nutzen, um im Sinne der Autolobby Änderungen zu verhindern. Eine Gesellschaft, die sich für ein politisches Ziel entschieden hat und es gemeinsam trägt, kann jede Technologie relativ schnell zum Ausrollen bringen, solange sie nicht dem ersten und zweiten Hauptsatz der Thermodynamik widerspricht, also solange sie physikalisch möglich ist. Doch unsere Gesellschaft ist sich nicht einig. Sie ist zerrissen und es gibt sehr viel Bigotterie in der Debatte über Mobilität, bei den politischen Akteuren ebenso wie auf der Nachfrageseite.
Was meinen Sie mit Bigotterie?
Ich meine damit, dass viele Menschen sehr schnell bereit sind zu fordern, dass sich alles ändern muss, doch dann, wenn Veränderung kommt, darum kämpfen, dass für sie alles gleich bleibt.
Dass also die Straßenbahn nicht in „ihrer“ Straße und der Güterzug nicht an ihrem Haus vorbeifahren soll?
Ja. Ich behaupte auch, dass eine Ertüchtigung des Bahnsystems nur dann funktionieren wird, wenn irgendwann die Nachfrage steigt. Das System muss ja auch ausgelastet werden. Eine Regierung muss deshalb auch bereit sein, regulativ die Nachfrage zu steigern, zum Beispiel indem sie das Autofahren teurer macht. Wenn Autofahren nicht teurer wird, wenn es keine flächendeckenden Mautsysteme gibt, wenn nicht dauerhaft Geld in alternative Systeme wie eine Nachtzugnetz gesteckt wird oder in neue Mobilitätsformen wie Ridepooling oder Carsharing, dann ändert sich nichts. Produkte, die nicht klimaneutral oder klimapositiv sind, müssen reguliert werden. Irgendwann wird auch Verhalten reguliert werden müssen. Doch dazu ist die Politik nicht bereit. Eine Nachfrageregulierung kann natürlich nur dann erfolgen, wenn die Angebotsseite und damit die Wahlmöglichkeiten größer geworden sind. Mobilitätsverhalten ist nur durch eine kluge Regulierungspolitk veränderbar. Eine kluge Regulierungspolitik erfordert, den Menschen zu sagen, worum es wirklich geht, die Probleme offen anzusprechen, und gleichzeitig zu vermitteln, dass eine Veränderung zum Positiven hin möglich ist.
Wird die Corona-Krise etwas für die Schiene verändern?
Meine Hoffnung ist, dass die Corona-Krise dazu führt, dass wir erkennen, wie fundamental ein widerstandfähiges Verkehrssystem für eine funktionierende Gesellschaft ist. Die Bahn kann eine zentrale Rolle spielen bei der Entwicklung eines resilienten Verkehrssystems, in dem wir zukünftig nicht mehr abhängig sind von den hochvolatilen globalen Lieferketten der Automobilwirtschaft und der Preisachterbahn der Ölderivate. Die Bahn – klug digitalisiert, pandemiegerecht gestaltet und klimaneutral konzipiert – kann das Kernelement einer nachhaltigen, inklusiven und verlässlichen Mobilitätskultur der Zukunft sein.
Eine private Frage: Wie entspannen Sie sich?
Ich versuche es mit Sport, meiner Familie, Lesen und Meditieren.
Das Gespräch führte Dagmar Rees.
Das Interview stammt aus der Ausgabe Eisenbahntechnische Rundschau 6/2020