Prof. Dr. Jürgen Siegmann
Forschung muss der Zeit voraus sein
Prof. Jürgen Siegmann forschte und lehrte über 35 Jahre für die Eisenbahnbranche – Ende 2017 ging er in den Ruhestand. Im ETR-Gespräch schaut er auf die Jahrzehnte zurück und entwirft Szenarien für die Zukunft, in der Innovationen die Eisenbahn weiter voranbringen.
Was haben Sie an Neuerungen in der Bahnbranche auf den Weg gebracht?
Zu wenige. Natürlich habe ich geforscht und beraten, aber umsetzen müssen andere. Ich kann mich an die dramatischen Tage der Bahnreform erinnern. Mir ging es darum, die Bahn auf der Spur zu halten und sie nicht dem reinen Kapitalismus auszusetzen. Großes Thema war, dass die Trassenpreise bezahlbar bleiben mussten, damit auch tatsächlich Züge auf dem Netz fahren können. Ich glaube, nun ist dieses gut geregelt. Es bleibt abzuwarten, wie es mit den Trassenpreisen für den Güterverkehr weitergeht. Einerseits ist zu begrüßen, dass es für den Schienengüterverkehr leichter wird. Andererseits ist man damit von dem Grundsatz abgekommen, dass die Nutzungsgebühr an die durch die Nutzung verursachten Kosten gekoppelt ist. Es steht zu befürchten, dass weitere Sektoren ebenfalls eine Ausnahme von dieser Regel fordern.
Sie waren im Wissenschaftlichen Beirat des Verkehrsministeriums BMVI.
Seit 2002. Dort konnten wir einiges bewirken durch unsere Stellungnahmen zu aktuellen Themen mit entsprechenden Denkanstößen. Dort habe ich auch fast alle Verkehrsminister persönlich kennengelernt – alle bis auf den letzten.
Sie waren erst in Hannover bei Professor Kracke, dann wurden Sie nach Berlin berufen.
Ja. In Hannover konnte ich nach dem Studium direkt an das Institut von Prof. Kracke wechseln und dort auch promovieren. 1987 erfolgte der Ruf an das Fachgebiet in Berlin, wo ich zusammen mit meinem Kollegen Prof. Markus Hecht den Lehr- und Forschungsschwerpunkt zum Schienengüterverkehr aufgebaut habe. Ein Thema war und ist beispielsweise der selbst angetriebene Güterwagen, mit dem unter anderem der Zwischenwerksverkehr in der Automobilindustrie rationalisiert werden könnte. Heute verfolgen wir diese Idee in Kooperation mit ungarischen Partnern.
Selbst angetriebene Güterwagen, die dann ohne Lokomotive fahren?
Die Idee war ein Shuttle-Service zwischen den VW-Werken. Inwieweit diese Fahrzeuge sich für eine Automatisierung eignen, muss noch untersucht werden. Natürlich sollten sich viele Wagen für die Hauptstrecke zu einem Zug sammeln, um die Netzkosten aufzuteilen.
Ein anderes Projekt stand im Zusammenhang mit dem damals als Megahub geplanten Containerumschlag zwischen den KV-Zügen in Lehrte. Dort ging es darum, die Verladung zu beschleunigen, indem der KV-Zug selbst mit Schwung und nicht per Rangierlok in das im Ladebereich fahrdrahtlose Ladegleise rollt. Dazu mussten die Lokomotiven den Stromabnehmer senken und mit dem Wagen unter den Kran rollen, bis sie selbst am Ende des Gleises wieder unter einem Fahrdraht stehen.
Unsere Tests zeigten, dass es funktioniert, auch das fast punktgenaue Halten, damit der Kran auch den ersten Wagen entladen kann.
Wir brachten auch die Idee ein, Doppelzüge zu fahren, wie dies beispielsweise in Frankreich praktiziert wird. Dabei werden zwei Züge, jeder maximal 740 m lang, zusammengekoppelt und von vorne gesteuert, wobei das zweite, personalfreie Triebfahrzeug per Funk geführt wird. Es gab auch Versuchszüge, die zeigten, dass es machbar ist – die DB hat dann das Projekt abgeheftet, mit dem Argument, dass es keine so langen Zugbildungsgleise gebe. Was aber auch gar nicht notwendig war, da der erste Zug nur vorziehen muss, damit sich der zweite Zug ankoppeln kann. Die Scheuklappen waren zu groß.
Sie sagten zu Beginn, dass Sie zu wenige Neuerungen auf den Weg bringen konnten. Liegt dies an den Scheuklappen der DB oder der ganzen Branche überhaupt?
Es gibt schon eine gewisse Innovationsstarrheit. Jeder fragt sich, ob er derjenige sein soll, der eine Innovation einführt und damit auch finanziert: Soll Innovation im Güterverkehr vom Wagenhalter ausgehen oder vom Eisenbahnverkehrsunternehmen? Natürlich konnte ich als Wissenschaftler einiges voranbringen. Wir haben viel publiziert. Insgesamt habe ich etwa 50 Promotionsverfahren betreut.
Forschung muss der Zeit voraus sein und auch bisher Ungedachtes denken und testen. Natürlich braucht Forschung auch Bodenhaftung.
Als Eisenbahnprofessoren wollen wir Innovationen entwickeln, die die Branche voranbringen.
Gibt es ein Herzensprojekt, das Sie noch gerne verwirklicht sehen wollen?
Der 1500 m-Zug ist weiter ein Thema. Wir haben einen entsprechenden Forschungsantrag gestellt und hoffen, dass ihm zugestimmt wird. Ein weiteres großes Projekt wäre....
<link file:24781 _blank download interview_schreyer>Hier können Sie das vollständige Interview als pdf herunterladen.
(Das Gespräch führte Dagmar Rees.)