Prof. Dr. Jörn Pachl
"Technik und Mensch stoßen an ihre Grenzen"
Die Leit- und Sicherungstechnik in Deutschland ist in die Jahre gekommen. ETR sprach mit Prof. Dr.-Ing. Jörn Pachl, Leiter des Instituts für Eisenbahnwesen und Verkehrssicherung der TU Braunschweig, über die Anforderungen an Mensch und Technik.
An welchen Entwicklungen arbeitet die Forschung augenblicklich bei der Leit- und Sicherungstechnik?
Ein Thema ist die Weiterentwicklung der Schnittstelle Mensch/Maschine, besonders in Bezug auf die Absicherung von Hilfshandlungen. Die immer stärker zentralisierte Betriebsführung stellt immer höhere Anforderungen an die Fahrdienstleiter. Es gab in den letzten Monaten einige Vorkommnisse, bei denen selbst sehr erfahrenen Fahrdienstleitern Fehler unterlaufen sind. Man muss sich fragen, ob die Strategie, Hilfshandlungen nur durch Zählpflicht abzusichern, noch zeitgemäß ist oder ob man stärker zu verfahrensbasierten Regeln kommen muss.
Der Mensch stößt an seine Grenzen?
Ja. Durch die zunehmende Automatisierung hat der Fahrdienstleiter zwar im Regelbetrieb immer weniger aktiv zu tun. Doch bei einer Störung wird es sehr schnell sehr komplex. Beim heutigen Stand der Sicherungstechnik kann der Mensch mit sogenannten zählpflichtigen Handlungen in sicherungsrelevante Prozesse eingreifen. Was er macht, wird nur gezählt und nicht zusätzlich abgesichert. Die Verantwortung trägt allein der Fahrdienstleiter. Diese Regelung stammt noch aus einer Zeit, als die Fahrdienstleiter ein übersichtliches Gleisfeld vor sich hatten. In den heutigen Betriebszentralen mit ihrer großen Zahl an Monitoren steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der Bediener überfordert ist. Man müsste die sicherungsrelevanten Handlungen anders absichern, durch Zeitverschlüsse beispielsweise oder verfahrens-basierte Lösungen.
Die Fahrdienstleiter sollen weniger Einfluss haben?
Es geht darum, ihnen durch zusätzliche Ab-sicherungen Verantwortungen abzunehmen, die sie unter den Bedingungen einer hochgradig zentralisierten Betriebssteuerung immer schwerer tragen können.
Auf der Innotrans waren neue Oberflächen zu sehen, mit Touchscreens statt Monitor und Maus. Sind das die neuen Schnittstellen?
Natürlich ist auch die Gestaltung der Bedienoberflächen ein Thema. Die heutigen Darstellungen auf den Monitoren stammen aus den 80er-Jahren. Wir alle wissen, dass sie heute nicht mehr so vorteilhaft sind. Auch kann man in Deutschland auf den Monitoren weder zoomen noch scrollen. Doch was einmal zugelassen ist, bleibt erst einmal, zumal der Zulassungsprozess bei neuer Sicherungstechnik sehr aufwendig ist. Doch neue Monitore und Darstellungsformen werden kommen. Ob Touchscreen oder eine andere Lösung: Die Leitzentralen werden in 20 Jahren anders aussehen als heute.
Welche Rolle spielt die Weiterentwicklung der Kommunikationstechnik?
Ein Forschungsthema ist die Verlagerung auch sicherheitsrelevanter Anwendungen in die Cloud, um die Verfügbarkeit zu erhöhen. Bei Nutzung der Cloud könnten Stellwerke bei Störungen durch andere Stellwerke gesteuert werden. Dies ist im Augenblick noch visionär, wird in der Zukunft jedoch eine immer größere Rolle spielen.
Sie arbeiten an Cloud basierten Anwendungen. Stellt sich angesichts der Erkenntnisse um den geheimen Abgriff von Daten durch fremde Institutionen, Stichwort NSA, nicht grundsätzlich die Frage, ob man die Systeme in der Cloud ausreichend absichern kann?
Sicherheit bei der Eisenbahn bekommt durch die Cloud eine neue Bedeutung. Bisher bedeutete Sicherheit immer nur Safety, weil die ganze Sicherungstechnik der Bahn völlig von öffentlichen Netzen abgekoppelt war. Doch sobald man in die Cloud geht, kommt der Security Aspekt hinzu. Es muss verhindert werden, dass Dritte unbefugt eindringen können. Hier besteht noch Forschungsbedarf, nicht so sehr bei den reinen Eisenbahningenieuren, sondern bei Informatikern und Kryptologen.
Wie beurteilen Sie den Stand der Leit- und Sicherungstechnik in Deutschland, gerade im Lichte der Unterbesetzung im Stellwerk Mainz, der Entgleisung in Bremen oder dem Zusammenstoß in Erfurt?
Die Lage ist etwas zwiespältig. Auf der einen Seite haben wir sehr moderne elektronische Stellwerke mit Betriebszentralen, auf der anderen Seite ist jedoch in Deutschland im -Vergleich zu anderen entwickelten Industrie-ländern der Anteil der Alttechnik überdurchschnittlich hoch. Wenn ich Alttechnik sage, dann meine ich gar nicht Relais-Technik wie in Mainz, sondern Technik aus der Vorkriegszeit, dabei bezieht sich Vorkriegszeit teilweise noch auf den Ersten Weltkrieg. Darüber wird ungern gesprochen.
Wie hoch ist der Anteil der Alttechnik – rund 40?%?
Wir haben in Deutschland noch über Tausend mechanische Stellwerke. Diese Technik wurde vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt. Dann gibt es noch mehrere Hundert elektromechanische Stellwerke, die in den 1930er-Jahren State of the Art waren. Diese Stellwerksbauformen zusammen machen noch über ein Drittel der Stellwerke in Deutschland aus. Man findet sie heute zwar nur noch auf den Regionalstrecken – im Hauptstreckennetz sind sie weitgehend verschwunden. Doch binden diese veralteten Techniken unheimlich viel Personal. Stellen Sie sich vor: Wir bilden immer noch Leute für eine Technik aus, die aus der Dampflok-Zeit stammt. Es gibt computerbasierte Lernprogramme, die zeigen, wie man ein mechanisches Stellwerk bedient. Das ist doch paradox. In vielen anderen Ländern ist diese veraltete Technik bereits weitgehend verschwunden. Die Schweiz, Holland, Dänemark, Belgien haben keinerlei Technik der Vorkriegszeit mehr. Selbst in Russland gibt es schon seit zehn Jahren keine mechanischen oder elektromechanischen Stellwerke mehr, wenngleich es dort andererseits auch bislang nur wenige elektronische Stellwerke gib. Deutschland hat hier Altlasten, gegen die man schleunigst etwas tun müsste.
Wie viel würde die erforderliche Modernisierung kosten?
Das kann ich gar nicht einschätzen. Auf jeden Fall kann man eine solche Investition aus den heute dem Netz jährlich zur Verfügung stehenden Mitteln nicht finanzieren. Vielmehr müsste man wie zum Beispiel Dänemark in einer konzertierten Aktion vorgehen: Innerhalb von 5 Jahren ausreichend Mittel bereitstellen, um die komplette Leit- und Sicherungstechnik flächendeckend auf den neuesten Stand zu bringen. Im Endeffekt würde man sogar sparen, denn man reduziert die Vielfalt der Typen und damit die zusätzlichen Kosten für Ersatzteilvorhaltung und Ausbildung. Doch eine solche Investition kann die Deutsche Bahn nicht alleine tragen. Hier ist der Eigentümer gefragt, der entscheiden muss, was ihm ein Schienennetz auf dem aktuellen Stand der Technik wert ist.
Stellt die Überalterung auch ein Sicherheitsproblem dar?
An einer Stelle, ja. Die Vorkriegs-Technik ist zwar in den Funktionen, die sie realisiert, genauso sicher wie unsere heutige Technik. Allerdings fehlt meist die Funktion der Gleis-freimeldung, das heißt, technisch kann ein Signal auf Fahrt gestellt werden, obwohl das Gleis mit einem Zug besetzt ist. Das Freisein des Gleises wird nur durch die sog. „Fahrwegprüfung durch Hinsehen“ festgestellt, d.?h., indem der Bediener aus dem Fenster schaut. Zusammenstöße durch irrtümliche Einfahrten in besetzte Gleise werden technisch nicht verhindert. Das ist ein Anachronismus und sollte heute nicht mehr erlaubt sein.
Mehr Verkehr auf den Schienen ist heute an vielen Punkten nicht mehr möglich, weil die Netzkapazitäten am Limit sind. Können Innovationen in der Leit- und Sicherungstechnik die Engpässe beseitigen oder muss auf jeden Fall neu gebaut werden?
Wo wir schon moderne Technik haben, sind die Spielräume weitgehend ausgereizt. Wir müssen uns von dem Gedanken lösen, dass man die Zugfolgezeiten auf den Strecken immer noch weiter kürzen kann. Selbst beim Fahren im absoluten Bremswegabstand würden eventuelle Gewinne durch die Geschwindigkeitsdifferenzen zwischen den Zügen und die notwendigen Pufferzeiten, um kleinere Schwankungen im Fahrverlauf auszugleichen, gleich wieder aufgefressen.
Nur in den großen Verkehrsknoten gibt es noch Spielraum. Hier könnte man einige Fahrstraßenausschlüsse beseitigen, indem man Funktionen realisiert, die heute schon zugelassen sind, die aber noch nicht alle Hersteller anbieten, zum Beispiel überlappende Durchrutschwege. Man könnte auch die Fahrstraßenbildezeiten in großen Knoten kürzen, indem man Weichen vorbereitend stellt, also mit dem Weichenstellen nicht erst anfängt, wenn eine neue Fahrstraße eingestellt werden muss, sondern schon dann, wenn man eine Fahrstraße auflöst. Doch auch das bringt nur punktuell Verbesserungen. Große Kapazitätssteigerungen sind durch die Leit- und Sicherungstechnik nicht zu erwarten.
Im ETR-Interview sagte MVG-Chef Herbert König, dass er mit der in München vorhandenen Leit- und Sicherungstechnik maximal einen 2-Minuten-Abstand bei den U-Bahnen erreichen kann. Ist das auch die Grenze für die Leit- und Sicherungstechnik überhaupt?
Bei der U-Bahn kommen Sie gar nicht auf viel kürzere Zugfolgezeiten, weil die Leute ja auch noch ein- und aussteigen müssen. Selbst wenn man im Moving Block fahren würde, wäre ein engerer Takt kaum möglich.
Warum nicht?
Heute basiert die Zugfolgesicherung darauf, dass wir feste Blockabschnitte haben, der Zug also den Fahrweg hinter sich im Takt der festen Blockabschnitte freigibt. Diese Blockabschnitte sind meist zwischen ein bis fünf Kilometer lang, bei Stadtschnellbahnen auch deutlich darunter. Beim Moving Block wird die Blockabschnittslänge Null, der Zug gibt den Fahrweg hinter sich kontinuierlich frei. Allerdings hängt die Mindestzugfolgezeit entscheidend von Parametern ab, insbesondere dem Bremsweg und der Zuglänge, die unabhängig von der Blocklänge sind. Daher ist der durch Verkürzen der Blocklänge mögliche Leistungsgewinn umso geringer, je kürzer die Blockabschnitte bereits sind. Der Mischbetrieb auf den meisten Strecken und die notwendigen Pufferzeiten verzehren viel mehr Kapazität als der Blockabstand.
Gibt es Möglichkeiten, die Pufferzeiten zu verringern?
In der Schweiz wurde die Idee entwickelt, die Leistungsfähigkeit des Netzes durch eine Präzisierung der Fahrweise zu erhöhen. Dabei wird der Zug von außen auf einer ganz exakten Linie geführt, viel genauer, als es ein Lokführer kann, vielleicht sogar automatisch. Das Ziel ist, die heute erforderlichen Pufferzeiten deutlich zu verringern. Wenn das klappt, kann man dadurch sicherlich mehr Kapazität gewinnen als durch die Reduzierung von Block-abständen.
Funktioniert die präzisere Fahrweise in der Schweiz schon?
Auch in der Schweiz wird noch nicht so gefahren, sondern erst darüber nachgedacht. Hierzu braucht man eine Technik, die für jeden Zug ständig einen aktualisierten Fahrtverlauf unter Berücksichtigung aller Konflikte berechnet und ihn dann auf der errechneten Linie exakt führt. Die Entwicklung geht dahin, die Technik ist aber auch in der Schweiz noch nicht realisiert.
Wie ein Autopilot im Flugzeug.
So in etwa. Wir haben ja heute schon die automatische Fahr- und Bremssteuerung. Doch das Problem sind nicht die Strecken, sondern die großen Knoten und die Bahnhöfe. Hier muss der Lokführer vielfach noch von Hand bremsen. Je genauer die Züge von außen geführt werden können, desto weniger Konflikte gibt es und desto mehr steigt die Leistungsfähigkeit. Doch wir stehen noch am Anfang dieser Entwicklungen.
Wie beurteilen Sie denn den Stand der ETCS-Einführung in Deutschland und in Europa?
Die ETCS-Einführung in Europa wird sich noch Jahrzehnte hinziehen. Deutschland gehört bekanntlich zu den Schlusslichtern. Das hat aber nachvollziehbare Gründe. Die heutigen Zugbeeinflussungssysteme in Deutschland sind betrieblich nicht schlechter als ETCS. Durch ETCS können wir weder schneller noch sicherer fahren. Auch die Leistungs-fähigkeit erhöht sich nicht, sondern wird an einigen Punkten sogar geringfügig sinken. Der einzige Vorteil von ETCS aus Sicht Deutschlands ist die Erleichterung des grenzüberschreitenden Verkehrs, da man keine Lokomotiven mit Mehrfach-Ausrüstung mehr braucht. Ich kann verstehen, dass das Netzmanagement angesichts der Kosten in Milliardenhöhe, ohne nennenswerten Return on Investment, die Einführung nicht von sich aus vorantreibt, sondern nur auf Druck Europas reagiert.
Ein weiterer Grund sind die alten Stellwerke in Deutschland. Sie sind nicht an ETCS anpassbar. Man müsste zuerst die ganze Stellwerktechnik aufrüsten, bevor man ETCS einführen kann, was die Kosten weiter in die Höhe treibt. Länder ohne solche Alt-Technik, wie die Niederlande, Belgien, Dänemark oder die Schweiz, haben es leichter. Die kleineren europäischen Länder haben gleichzeitig auch ein größeres Interesse an ETCS, weil die Bedeutung des grenzüberschreitenden Verkehrs größer ist.
(Das Interview führte Dagmar Rees)
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