Prof. Dr.-Ing. Nils Nießen
"Bessere Lösungen durch vollautomatische Disposition"
Prof. Dr.-Ing. Nils Nießen forscht am Verkehrswissenschaftlichen Institut der RWTH Aachen interdisziplinär zu Fragen der Netzoptimierung. Ein Ergebnis: Bei der Auflösung von Störungen ist der Computer heute dem Menschen schon in vielen Bereichen überlegen.
1. Sie haben seit Oktober 2013 den Lehrstuhl für Schienenbahnwesen und Verkehrswirtschaft inne. Was ändert sich, was bleibt?
Der Lehrstuhl hat drei Arbeitsschwerpunkte: die Eisenbahnbetriebswissenschaft, die Verkehrswirtschaft und die Eisenbahnsicherungstechnik. Die größten Veränderungen betreffen das Betriebslabor. Wir rüsten die gut 50 Jahre alte Anlage komplett um, mit elektronischem Stellwerk und Schattenbahnhof. Damit sind wir in der Lage, das Betriebsfeld auch für unsere Forschungen, beispielsweise zur vollautomatischen Disposition und zum energiesparenden Fahren, einzusetzen.
2. Was sind Ihre Forschungsschwerpunkte?
Unser Schwerpunkt liegt weiterhin bei der Eisenbahnbetriebswissenschaft. Große Themen stellen die Disposition, die Fahrplanerstellung und Leistungsfähigkeitsberechnungen des Netzes dar.
3. Die Leistungsfähigkeit des Netzes beschäftigt Fahrgäste wie Politik. Was können Sie zur Diskussion beitragen?
Der Lehrstuhl hat vor Jahren die Software LUKS® entwickelt, mit Hilfe derer Leistungsfähigkeitsberechnungen durchgeführt werden. Damit kann man berechnen, wie viele Zugfahrten auf bestehender Infrastruktur abgewickelt werden können oder wie viel Infrastruktur erforderlich ist, um eine gewünschte Zahl von Zugfahrten zu realisieren. In vielen Bereichen des Eisenbahnnetzes stoßen wir heutzutage an Leistungsgrenzen. Es geht deshalb neben dem Neubau auch darum, die Leistungsfähigkeit bestehender Strecken zu optimieren. Ein konkretes Einsatzbeispiel ist die Frage, wie sich Lärm reduzierende Maßnahmen auf die Netzkapazität auswirken. Wenn die Güterzüge durch das Rheintal langsamer fahren müssen, sinkt die Kapazität des Netzes. Unsere Ausgründung, die VIA Consulting & Development GmbH, analysiert hierzu momentan die betrieblichen und wirtschaftlichen Auswirkungen. Darüber hinaus forschen wir an der Erweiterung der analytischen Modelle zur Leistungsfähigkeitsberechnung.
4. Wie weit sind Sie in Ihren Forschungen zur vollautomatischen Disposition?
Das Thema wird uns sicher die nächsten 10 bis 20 Jahre begleiten. Unser Thema ist die vollautomatische Disposition bei Störungen, wenn der Betrieb nicht mehr planmäßig läuft. Heute ist dies die Aufgabe des einzelnen Disponenten oder es werden im Vorfeld einzelne Notfallpläne erstellt, die beschreiben, was zu tun ist, wenn eine bestimmte Störung eintritt. Bei der vollautomatischen Disposition verabschieden wir uns von diesem regelbasierten Vorgehen. Die Störung wird als mathematisches Problem behandelt, das es zu optimieren gilt. Basis der Berechnungen sind die Sperrzeiten. Erste Untersuchungen für den Großraum Bern haben gezeigt, dass die vollautomatische Disposition bei Störungen ganz neue und bessere Lösungen aufzeigen kann. Disponenten handeln aus ihrem Erfahrungswissen heraus und kommen meist gar nicht auf die Ideen, die das Computerprogramm entwickeln kann. Auch müssen sie die Störung mit ihren Folgen auf das Netz kaskadenartig, ein Fall nach dem anderen, abarbeiten, während das Computerprogramm alle Fälle gleichzeitig berücksichtigen kann. Augenblicklich ist der mögliche Einsatz vollautomatischer Disposition wegen mangelnder Rechenleistung noch auf kleinere Netze begrenzt. Die Optimierung für ein großes Netz würde bei heute verfügbarer Rechenleistung zu lange dauern. In einigen Jahren wird die Rechenleistung jedoch kein Hindernis mehr darstellen. Außerdem arbeiten wir hier an der RWTH interdisziplinär mit unseren Kollegen aus der Mathematik, der Informatik und anderen Ingenieurwissenschaften daran, die Algorithmen für die Optimierung zu verfeinern.
5. Wie beliebt ist Ihr Fach bei den Studierenden?
Unsere Studierendenzahlen steigen. Die RWTH hat mit „Mobilität und Verkehr“ einen neuen Studiengang eingerichtet, der stark nachgefragt ist. Die Studierenden wollen etwas Nachhaltiges machen. Verkehr ist zum Mainstream geworden.
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