Prof. Andreas Oetting
"Die Störungen im Griff"
Störungen im Betrieb wirken sich negativ auf die Kunden aus. Prof. Andreas Oetting, Leiter des Fachgebietes Bahnsysteme und Bahntechnik, beschreibt, wie sich durch professionelleres Störungsmanagement die Auswirkungen verringern lassen.
Professor Oetting, Sie veranstalten im Juni das Eisenbahntechnische Kolloquium „Störung im Griff oder im Griff der (Groß)störung“? Wenn Sie die vergangenen 12 Monate in Bezug auf Störungen und Eisenbahn betrachten, welche der beiden Aussagen ist Ihrer Ansicht nach zutreffender?
Meiner Ansicht nach ist eher die Störung im Griff. Dem Thema „Störungen“ widmet man inzwischen sehr viel Aufmerksamkeit. Beim Hochwasser im vergangenen Jahr beispielsweise gab es schnell einen speziellen Hochwasserfahrplan.
Auch bei den Baustellen hat sich vieles sehr verbessert. Die Bauarbeiten am Ost-West-Korridor beispielsweise sind sehr glatt über die Bühne gegangen. In meiner früheren Funktion als Leiter von „FreeFloat“ bei der DB Netz AG habe ich an der Entwicklung von Algorithmen zur fahrplanerischen Ausregelung von Baustellen mitgewirkt, und wir haben ein Verfahren zur netzweiten Modifikation von Fahrplänen entwickelt.
Ferner werden inzwischen verstärkt Störfallprogramme eingesetzt. Insgesamt ist ein hohes Maß an Professionalität erreicht worden und die Professionalisierung wird weiter gehen.
Worum geht es dann beim Kolloquium?
Das diesjährige Eisenbahntechnische Kolloquium soll den Dialog aller Betroffenen fördern um die Professionalisierung des Störfallmanagements Entwicklung voranzutreiben – von standardisierten Arbeitsabläufen in der Disposition und effizienter Ressourcennutzung über interne Kommunikation bis hin zum intermodalen Kundenservice. Ein gegenseitiges Lernen der unterschiedlichen Schienenverkehre soll dabei ebenso stattfinden wie ein Erfahrungsaustausch mit der Logistik. Das Kolloquium wird einen Überblick zu den jüngsten und laufenden Entwicklungen, den Erfahrungen mit bisherigen Ansätzen sowie zu den Visionen für das Management von größeren Störungen geben. Die konkreten Entwicklungen finden dabei augenblicklich eher bei den Bahnen als an den Universitäten statt. Die TU Darmstadt ist eine der wenigen Forschungseinrichtungen, die sich mit dem Thema „Störungen“ beschäftigt.
Das Engagement der Bahnen ist sehr nachvollziehbar. Ein professionellerer Umgang mit Störungen steigert sowohl die Kunden- als auch die Mitarbeiterzufriedenheit. Des Weiteren können gegebenenfalls Pönalezahlungen vermindert werden. Ein wesentlicher Nutzen besteht zudem in einer Reduzierung der Kosten für die Ressourcen und die Wiederherstellung des planmäßigen Betriebes.
Woran arbeiten Sie hier im Institut?
Unsere Frage ist, wie man grundsätzlich ein Störfallprogramm so gestaltet, dass es erfolgreich umsetzbar ist. Eine Störung bedeutet meist, dass ein Teil der Infrastruktur nicht zur Verfügung steht. Die Ursache ist dabei nicht notwendigerweise eine Infrastrukturstörung. Ein liegen gebliebenes Fahrzeug führt ebenso zu einer Störung und dazu, dass die entsprechende Infrastruktur von anderen Fahrzeugen nicht genutzt werden kann.
Eine Störung führt somit in der Regel zu einer Reduktion der Kapazität. Gleichzeitig erfordert die betriebliche Reaktion auf die Störung oft einen erhöhten Kapazitätsverbrauch, der zudem einer hohen Streuung unterworfen ist. Beispielsweise belegt ein vorzeitig wendender Zug die Infrastruktur eines Bahnhofs länger und in der Regel mit mehr Fahrtenausschlüssen als ein durchfahrender oder nur zum Reisendenwechsel haltender Zug. Unser Ansatz ist daher die Infrastrukturbelegung im Störungsfall eher zu reduzieren als zu steigern, um weiteren Stau zu vermeiden. Dazu haben wir im Rahmen mehrerer Forschungsprojekte auf der Grundlage bestehender Kapazitätsmodelle für den störungsfreien Betrieb eine Kapazitätsmodellierung für den Störungsfall entwickelt.
Ein Störfallprogramm zu erstellen bedeutet, im Vorhinein zu überlegen, welche Züge (teil)ausfallen, streckenweise umgeleitet werden oder vorzeitig wenden – die Reaktionen auf eine Störung werden also vorprogrammiert. Im Störungsfall wird dann nur das vordefinierte Störfallprogramm angewendet. Darin ist festgelegt, wie welche Züge fahren, alle Beteiligten sind informiert und auch die Fahrgastinformation wird vereinfacht. Dies bedeutet für die Reisenden klare, vorhersehbare Betriebsabläufe, geringen Kommunikationsaufwand als notwendige Voraussetzung für eine schnelle Reaktion auf die Störung sowie eine insgesamt höhere Lösungsqualität. Je schneller man das schafft, desto schneller ist ein – neuer - Regelbetrieb erreicht, denn ein vordefiniertes Störfallmanagement ist auch ein Regelbetrieb.
In unserer Forschungsarbeit haben wir festgestellt, dass die erfolgskritische Phase die Einschwingphase ist, also der Übergang vom gestörten Betrieb in das Störfallprogramm. Denn zwischen dem Auftreten einer Störung und dem Anlaufen des Störfallprogramms vergeht erst einmal einige Zeit, bis Art und Umfang der Störung erkannt sind, d.?h. zuerst gibt es eine „chaotische“ Phase, die man nicht verhindern kann. Aus dieser wenig gesteuerten Phase muss ein schneller Übergang in das Störfallprogramm möglich sein, um den genannten Nutzen dieser Programme möglichst umfassend zu heben.
Unsere Arbeiten haben ergeben, dass ein wesentlicher Einfluss auf ein schnelles Einschwingen die Gestaltung des Störfallprogramms selbst ist. Dies bedeutet, dass solche Programme nicht nur auf den eingeschwungenen Zustand zu dimensionieren sind sondern vielmehr – und das ist der wichtigere Teil – auf eine kurze Einschwingphase zu bemessen sind. Dabei muss man sehr detailliert prüfen, was konkret betrieblich möglich ist.
Die Reaktion auf einen konkreten Störfall wird standardisiert.
Ja. Dabei ist unser Hauptpunkt bei der Störungsbehandlung die Frage, wie man mit der Kapazität umgeht, und zwar der Kapazität beim Einschwingen in das Störfallprogramm. Man muss im Störfallprogramm also mit berücksichtigen, was mit der Kapazität in der Phase zwischen Störung und Erreichen des Störfallprogramms passiert.
Eine Störung kann an jedem beliebigen Punkt im Schienennetz passieren. Müssen Störfallprogramme also für jeden beliebigen Punkt definiert werden?
Nicht notwendigerweise. Das hängt davon ab, wie viel Verkehr dort stattfindet und wie gut die Disponenten den Betrieb während einer Störung auch ohne Störfallprogramm organisieren können. Man beginnt mit den Netzabschnitten, die hoch belastet sind. Für das Beispiel der S-Bahn Frankfurt ist dies die Stammstrecke zwischen Hauptbahnhof und Lokalbahnhof. Hier wurden von der DB Programme definiert für den Fall, dass nur eines oder beide Gleise gestört sind.
Wann lohnt sich ein Störfallprogramm?
Das hängt vom Risiko der Störung ab. Das Risiko setzt sich zum einen aus der Häufigkeit einer Störung und zum anderen aus den zu erwartenden Auswirkungen, also der Störungsdauer sowie der Anzahl der betroffenen Züge und Fahrgäste zusammen. Deshalb sollten Störfallprogramme sowohl für Störungen, die geringere Auswirkungen haben, deren Eintreten jedoch sehr wahrscheinlich ist, als auch für sehr seltene Störungen mit sehr großen Auswirkungen (z.?B. Komplettausfall eines elektronischen Stellwerks) entwickelt werden.
Grundsätzlich lohnen sich Störfallprogramme für sehr viele Situationen aufgrund des dadurch besseren Betriebsablaufs. Allerdings muss darauf geachtet werden, dass es nicht zu viele Störfallprogramme werden, um die Unterscheidbarkeit und eine entsprechende Handhabung zu gewährleisten.
Ist die Störungsfreiheit einer Trasse auch Bestandteil des Trassenpreises?
Nein.
Störungsmanagement ist die eine Seite der Störung. Die andere ist, Störungen überhaupt zu verhindern. Was müsste hier noch getan werden?
Man arbeitet ständig daran, Störungen zu verhindern. Unser Ansatz ist das Störungsmanagement und die Frage, wie man aus Fehlern im Betrieb lernen kann. Wir entwickeln deshalb ein Schulungsprogramm für Disponenten. An der TU haben wir ein Eisenbahnbetriebsfeld, eine Modellanlage, die mit realer Technik gesteuert wird. Hier werden wir ein zweitägiges Seminar für Disponenten durchführen. Am ersten Tag sollen sie bei Störungen so reagieren, wie sie es immer tun, ohne Störfallprogramm. Am zweiten Tag bekommen sie für diese Störungen das entsprechende Störfallprogramm und arbeiten die Störungen nach Programm ab. Das spannende an diesen Seminaren ist zum einen, zu beobachten, wie in der Praxis Probleme gelöst werden und dadurch durchaus auch Anregungen für Verbesserungen im Störfallprogramm zu bekommen. Zum anderen erfahren die Disponenten in den Kursen, dass mit einem solchen Programm Störungen wesentlich geordneter gelöst werden können und dass das Programm ihnen Arbeit abnimmt.
Gibt es Vorbehalte bei den Disponenten gegenüber diesen Programmen, die ja in ihre Kernkompetenzen eingreifen?
Das Institut arbeitet grundsätzlich eng mit der Industrie und den Eisenbahnverkehrsunternehmen zusammen, auch bei öffentlich geförderten Projekten, weil wir die Erfahrungen der Praxis für sehr wertvoll halten. Die Disponenten nehmen sehr wohl wahr, dass die Programme die Möglichkeiten verringern, ihre individuelle Kompetenz zu zeigen. Doch sie nehmen auch wahr, dass sie ihnen sehr viel Routinearbeit abnehmen: Sie haben mehr Zeit zu denken und Ideen zu entwickeln.
In der Industrie wird an veränderten Oberflächen in der Disposition gearbeitet. Ist das für Sie ein Thema?
Ja, denn ein Disponent ist dann in der Störungsbehebung schnell, wenn die Benutzerführung so gestaltet ist, dass er zügig arbeiten kann und die Oberfläche ihn optimal dabei unterstützt. Deswegen entwickeln wir sowohl mit Disponenten als auch mit Fahrdienstleitern Oberflächen und Benutzerführungen weiter und evaluieren die Entwicklungen.
Neue Benutzeroberflächen ähneln im Aufbau sehr stark modernen Tablets. Wie reagieren die Disponenten darauf?
Durchaus positiv. Zumal die in der letzten Zeit vorgestellten Lösungen nicht nur die Oberfläche neu gestaltet, sondern auch die Bedienphilosophie verändert haben. Dies ist natürlich gewöhnungsbedürftig, deshalb fallen die Reaktionen insbesondere im Erstkontakt durchaus unterschiedlich aus, insgesamt jedoch eher positiv.
Was wünschen sich die Disponenten, wenn sie nach Verbesserungen bei der Oberfläche gefragt werden?
Grundsätzlich wünschen sich die Disponenten eine Vorschau der Auswirkungen verschiedener Entscheidungsmöglichkeiten. Also wie sich die Verspätung eines Zuges an einer Betriebsstelle X auswirkt, wenn er in einer anderen Betriebsstelle Y zurückgehalten wird. Weiterhin soll die Arbeit durch einfache Eingaberoutinen vereinfacht werden. Darüber hinaus wünschen sich die Disponenten modernes Design, wie sie es von ihren privaten Endgeräten gewöhnt sind.
Gibt es Daten, wieviel Störungen in den vergangenen Jahren die Eisenbahnverkehrsunternehmen – auch im internationalen Vergleich – gekostet haben?
Es existieren Daten beispielsweise zu störungsinduzierten Verspätungsminuten. Es ist jedoch immer die Frage, gerade im internationalen Vergleich, wie eine Störung definiert wird. Hier gibt es keine einheitliche Definition.
Für eine Monetarisierung der Verspätungsminuten existieren ferner mehrere Möglichkeiten, beispielsweise über die Kostensätze, Pönale oder die Nachfragewirkung.
Wie lautet in Deutschland die Definition einer Großstörung?
Es gibt keine Standarddefinition.
Es gibt keine Störungsquoten und Vergleichsdaten?
Man kann zwar Verspätungsminuten einer Störung zuscheiden, doch hat das seine Grenzen, weil sich jede Störung auf das Netz auswirkt und dort auf die Auswirkungen anderer kleinerer oder größerer betrieblicher Unregelmäßigkeiten stößt. Dann wird die Abgrenzung zwischen den Ursachen und damit die Zuscheidung schwierig. In Großbritannien versucht man das im Regelgeschäft, doch mit wenig Erfolg.
Störungen sind jedoch für die Fahrgäste von größter Bedeutung. Wenn man mit Menschen über den Schienenverkehr spricht, sind die Störungen das Hauptthema.
Am Institut arbeiten wir daran, die Auswirkung der Veränderung der Angebotsqualität auf die Verkehrsnachfrage zu quantifizieren. Klassischerweise wird die Verkehrsnachfrage eher aus raumplanerischer Sicht betrachtet: Wo wohnen die Leute, wo wollen sie hin, wie überwinden sie die Entfernung, mit welchem Verkehrsmittel? Wir dagegen schauen uns an, wie sich die Nachfrage verändert, wenn sich die Qualität eines Verkehrsmittels verändert. Eine spannende Größe sind dabei die Verspätungen. Wir untersuchen was passiert, wenn Verspätungen regelmäßig auftreten: Wandern die Reisenden zu anderen Verkehrsmitteln ab oder bleiben sie?
Welche Erkenntnisse über die Auswirkungen von Verspätungen haben Sie gewonnen?
Verspätungen im öffentlichen Personenverkehr werden negativer bewertet werden als die geplante Beförderungszeit. Das ist schon seit Längerem bekannt. Seit Kurzem wissen wir, dass auch geplante Beförderungszeitverlängerungen durch Stehen, z. B. im Bahnhof, negativer wahrgenommen werden als im fahrenden Zug. Aktuell sind wir dabei, für den Güterverkehr zu untersuchen, wie Verspätungen wirken, abhängig davon, wer die Nachfrager sind.
Wie viel würde es kosten, ein bundesweites Störungsmanagement einzuführen?
Das kann man nicht pauschal beantworten. Es hängt davon ab, wie stark man bei der Betrachtung ins Detail geht. Je mehr Störfallprogramme erstellt und regelmäßig aktualisiert werden müssen, umso mehr kostet es. Auf der anderen Seite kann durch ein umfassendes Störungsmanagement die Servicequalität im Schienenpersonenverkehr und damit auch dessen Attraktivität gesteigert werden – was wiederum einen Beitrag zur gewünschten Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene leistet.
Muss für besseres Störungsmanagement die Kapazität der Infrastruktur erhöht werden?
Mit dem beschriebenen Störfallmanagement verbessern wir die Prozesse und steigern damit Kapazität und Pünktlichkeit im Störungsfall. Insofern bieten wir prozessuale Lösungen für Kapazitätsprobleme, die deutlich kostengünstiger und schneller umsetzbar sind als Betontechnische.
Wenn Bahnen zu Ihnen kommen, was können Sie Ihnen bieten?
Wir wissen, dass sich Störungen negativ auf die Nachfrage auswirken. Hier liegt ein erhebliches Potenzial. Wenn Bahnen zu uns kommen, können wir ihnen eine methodische Beratung anbieten, wie man Störfallprogramme erstellt und besonders bezüglich des Einschwingens optimiert. Außerdem können wir ihre Disponenten sowohl im Störfallmanagement als auch in der Anwendung von Störfallprogrammen schulen und sie damit entlasten.
Welche Rolle spielt das Thema Störungen bei anderen Verkehrsträgern?
Wir haben natürlich über den Tellerrand geschaut und festgestellt, dass wir gar nicht weit schauen müssen, sondern nur über den Flur, zu unseren Kollegen von Verkehrsplanung und Verkehrstechnik, die das Gleiche für den Straßenverkehr machen. Mit ihnen zusammen haben wir ein Projekt durchgeführt.
Wie groß ist die Bedeutung der Störungsforschung für Ihr Institut?
Rund 50?% unseres Teams arbeitet an Forschungsprojekten in der Eisenbahnbetriebswissenschaft. Ein weiteres großes Thema hier am Institut ist die Leit- und Sicherungstechnik, in Zusammenarbeit mit verschiedenen anderen Instituten der TU Darmstadt und auch der Industrie. So testen wir beispielsweise Prototypen in unserem Betriebsfeld. Damit haben die Betreiber und Hersteller die Möglichkeit, das Wissen der Anwender in die Entwicklung einzubringen, gleichzeitig Change-Management mit praktischen Elementen zu betreiben und Verbesserungen kostengünstig schon im Vorfeld einarbeiten zu können. Andernfalls lautet die Devise oft: friss oder stirb.
Eisenbahn gilt unter jungen Leuten oft als langweilig. Wie erreichen Sie die Studierenden?
Die Grundeinstellung zu Eisenbahn ist oft nicht so positiv wie zu Autoherstellern, Google oder dem Luftverkehr. Der fachliche Kontakt ändert diese Einstellung schnell und nachhaltig.
Wie stellen Sie den fachlichen Kontakt her?
Eine wichtige Rolle spielen Exkursionen und das Betriebsfeld, dort kann Eisenbahn hautnah erfahren werden.
Eine private Frage: Wie entspannen Sie sich?
Mit meiner Familie und beim Sport.
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(Das Interview führte Dagmar Rees)