Nicole Friedrich: Keiner kennt die Züge besser als wir
Nicole Friedrich ist seit März 2022 Vorsitzende der Geschäftsführung der DB Fahrzeuginstandhaltung GmbH (DB FZI). Sie beschreibt im ETR-Interview, wie bei der Deutschen Bahn (DB) die schwere Instandhaltung digitalisiert wird und warum das Unternehmen auf eigene Werkstätten setzt.
Mittlerweile steht eine Vielzahl an Digitalisierungstechnologien zur Verfügung – wie setzt die DB/die DB Fahrzeuginstandhaltung GmbH diese ein?
Viele der neuen Technologien verwenden wir schon täglich. Weitere Digitalisierungstechnologien werden wir in den kommenden Jahren ausrollen. Grundlage hierfür ist der Digitalisierungsplan, der uns bei der Umsetzung leitet. Als DB Fahrzeuginstandhaltung können wir nicht alles, was möglich ist, sofort umsetzen. Zum einen ist dies eine Frage der Finanzierung. Zum anderen wollen wir unsere rund 8500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vernünftig mitnehmen.
Digitalisierung ist immer auch Changemanagement. Nur wenn sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die neuen Technologien zu eigen machen, gelingt die Transformation. Ein gutes Beispiel ist der 3D-Druck. Hier gibt es inzwischen über 500 verschiedene Anwendungsfälle; insgesamt wurden schon über 60.000 Teile so hergestellt. Die meisten Anwendungen wurden dabei von unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vorgeschlagen und auch entwickelt.
Nutzen Sie eigene 3D-Drucker oder setzen Sie externe Dienstleister ein?
Für den Druck von Bauteilen haben wir in den Werkstätten verschiedene 3D-Drucker aufgebaut, also die Kompetenzen auf mehrere Standorte verteilt. Ihr Einsatz reicht von der Entwicklung von Arbeitshilfsmitteln über den Druck von Kleinserien bis hin zum Druck von obsoleten Ersatzteilen. 3D-gedruckte Arbeitshilfsmittel sind zum Beispiel Schablonen für das Anbringen von Piktogrammen im Innenraum von ICE-Wagen oder das präzise Abdecken von Außenflächen beim Lackieren. Jeden Tag kommen neue Anwendungsfälle hinzu. Metallteile wie Radsatzlagerdeckel lassen wir dagegen extern drucken. Langfristig bauen wir ein virtuelles Ersatzteillager auf, in dem die notwendigen Druckdaten hinterlegt sind, so dass wir Ersatzteile immer dann drucken können, wenn sie gebraucht werden. Wir gehen davon aus, dass wir bis 2030 10 Prozent aller Ersatzteile nur noch digital vorhalten.
Vor Jahren habe ich eine Datenbrille ausprobiert, die mich an einen ICE heranführte. Haben Virtual (VR) und Augmented Reality (AR) auch ihre Anwendungsfälle gefunden?
Wir erproben AR zu Schulungszwecken sowie zur Remote-Unterstützung mittels Datenbrille bei der Instandhaltung von Spezialkomponenten. Das hat beispielsweise bei einer Fahrzeuginbetriebnahme im Ausland, während der eingeschränkten Reisemöglichkeit durch Corona, enorm geholfen. Über die Datenbrille des Mitarbeiters im Feld kann ein Meister in der Werkstatt sehen, welches Schadbild vorliegt und die Reparatur unterstützend begleiten. Piloten, bei welchen die Möglichkeit besteht, über die Datenbrillen auch Arbeitsanweisungen oder unterstützende Dokumente einblenden zu lassen, sind in Vorbereitung.
Wie weit sind Sie mit der Digitalisierung der Komponenten, beispielsweise bei der eindeutigen Identifizierung der im Fahrzeug eingebauten Teile?
Wir setzen hier auf Ortungssensorik. Bei einer Revision und besonders bei einem Redesign, wenn die Fahrzeuge komplett entkernt und modernisiert werden, treten Hunderte Komponenten ihre Reise durch die Nebenwerkstätten an. Sie müssen am Ende zuverlässig wieder zusammengeführt und in das richtige Fahrzeug eingebaut werden. Diesen Materialfluss steuern wir mit Ortungssystemen in den Werkshallen. Komponenten und die Transportwagen sind hierfür mit RFID-Tags versehen. So ist jederzeit und für alle einsehbar, wo sich welche Komponente gerade befindet. Bisher ist das Werk in Nürnberg, das auf Redesign spezialisiert ist, mit einem solchen System ausgestattet - nach und nach werden wir es in weiteren Werken einführen.
Grundlage der Digitalisierung ist immer eine stabile Datenkommunikation. Steht diese überall zur Verfügung?
Unsere Werke sind alle mit WLan ausgerüstet. Zusätzlich rüsten wir ein erstes Werk mit einem 5G-Campusnetz aus, um die Vorteile dieser Technologie in der Praxis zu erproben und bei positiven Ergebnissen auf weitere Werke zu übertragen. Seit rund drei Jahren sind alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Deutschen Bahn mit mobilen Endgeräten ausgestattet, auch das Personal in unseren Instandhaltungswerken. Ein Großteil der Arbeitsaufträge werden inzwischen direkt auf die Endgeräte übertragen, ohne den umständlichen Zwischenschritt über Papierausdrucke. Im Rahmen eines Piloten können die Mitarbeitenden über ihre Endgeräte in den Werken beispielsweise auch die Zeichnungen der Fahrzeuge abrufen, an denen sie gerade arbeiten. Diese werden 1:1 aus dem System geladen und sind damit immer auf dem neuesten Stand.
Wie hoch ist der Zeitgewinn und die Kostensenkung, die durch die bisherigen Digitalisierungsschritte erreicht wurden?
Der entscheidende Faktor für uns ist, wie lange sich ein Fahrzeug im Werk aufhält. Ein Zug, der in der Werkstatt steht, kann nicht fahren. Er steht unseren Kunden nicht zur Verfügung und kann damit keinen Umsatz erwirtschaften. Natürlich versuchen wir mit allen Optimierungs- und Digitalisierungsmaßnahmen die Aufenthaltszeit in unseren Werken zu reduzieren; schließlich ist Digitalisierung ja kein Selbstzweck. Wir sehen erste Effekte aus der Digitalisierung, allerdings ist der Ansatz eine kontinuierliche Verbesserung und kein Innovationssprung.
Was sind die nächsten Digitalisierungsschritte?
Wir haben den Einsatz eines Roboters für die Montage und Demontage von ICE-Seitenklappen getestet. Außerdem haben wir mit einer KI-basierten Bauteilerkennung gestartet. Augenblicklich werden aufzuarbeitende Alt-Komponenten, die nicht eindeutig zuordenbar sind, einem erfahrenen Mitarbeiter vorgelegt, der diese erkennt und klassifiziert. Diese Aufgabe wird zukünftig die Künstliche Intelligenz (KI) übernehmen, die mit Hilfe von maschinellem Lernen gerade aufgebaut wird.
Sehen Sie Grenzen der Digitalisierung?
Ein limitierender Faktor ist sicher, dass wir in Teilen eine Art Manufaktur sind. Einige der Fahrzeuge, die wir instandhalten und warten, wurden in kleinen bis mittelgroßen Stückzahlen und zum Teil schon vor vielen Jahrzehnten gebaut. Wir betreuen fast 1000 verschiedene Baureihen, deshalb müssen wir im Einzelfall prüfen, ob Digitalisierung wirtschaftlich ist. Bei den langen Lebenszeiten der Fahrzeuge muss die eingesetzte IT-Technologie abwärtskompatibel sein, was bei der hohen IT-Entwicklungsgeschwindigkeit eine Schwierigkeit darstellt. Eine weitere Herausforderung ist auch, dass alle digitalisierten Anwendungen intuitiv bedienbar sein müssen, damit sie alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einfach nutzen können.
Inwieweit sollten höchstmögliche Verfügbarkeit und geringstmögliche Life Cycle-Kosten schon bei der Beschaffung von Fahrzeugen eine Rolle spielen?
Natürlich sollten diese Aspekte von Anfang an mitgedacht werden. Fahrzeuge sollten wartungs- und instandhaltungsfreundlich designt und konstruiert sein. Dies heißt beispielsweise, dass Komponenten, die häufig ausgetauscht werden müssen, auch direkt zugänglich sein sollten. Denn wenn erst vier Teile ausgebaut werden müssen, um das fünfte austauschen zu können, ist dies nicht effizient.
Werden Daten der Instandhaltung gezielt ausgewertet, um Lastenhefte für die Beschaffung zu schreiben?
Auf jeden Fall. Außerdem werden hierfür Daten aus dem Betrieb genutzt.
Das Anliegen der Hersteller ist, Wartung und Instandhaltung von Fahrzeugen selbst zu übernehmen, um nach dem Verkauf über die Lebensdauer der Fahrzeuge hinweg ein stetiges Einkommen zu erzielen. Bei diesem Modell wird dem Betreiber eine sehr hohe Flottenverfügbarkeit garantiert. Die DB geht einen anderen Weg und investiert weiter in eigene Werkstätten, zum Beispiel in das neue Werk in Cottbus - warum?
Wir haben über 180 Jahre Eisenbahnerfahrung und damit ein immenses Fachwissen, zudem sind wir Marktführer in der Instandhaltung von Schienenfahrzeugen in Deutschland. Die DB verfügt historisch gewachsen über ein großes Netzwerk an eigenen Werkstätten in Deutschland. Allein die DB Fahrzeuginstandhaltung (FZI) hat 12 große Werke. Hinzu kommen viele dezentrale betriebsnahe Werkstätten für die betriebsnahe Instandhaltung. Wir halten von der Dampflok über den Güterwagen bis zum ICE alle Fahrzeuge und die dazugehörigen Komponenten instand. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben ein breites Instandhaltungs-Know-how – keiner kennt die Züge besser als wir. Dieses Wissen setzen wir tagtäglich ein, um dem Kunden ein hochwertiges Produkt zu bieten. All dies aufzugeben und die Wartung und Instandhaltung komplett zu vergeben, ist für uns kein Geschäftsmodell.
Sie bieten vielmehr zunehmend Wartung und Instandhaltung auch für Dritte außerhalb des Konzerns an - was entwickelt sich hier?
Wir akquirieren jährlich, zusammen mit den betriebsnahen Werken, Fremdaufträge im dreistelligen Millionen-Euro-Bereich. Dies reicht von der betriebsnahen Instandhaltung über die Revision bis zu der Modernisierung von Zügen. Sehr gefragt ist auch der Service beim Kunden vor Ort durch unsere mobilen Teams. Auch dort ist unser Vorteil, dass wir sehr viele Baureihen im Markt durch die eigene Instandhaltung bestens kennen und das größte Werkstätten-Netzwerk in Deutschland anbieten können.
Sie sind auch für den Neubau des Werkes in Cottbus zuständig. Hier werden rund 1 Mrd. EUR investiert. Cottbus wird als Zukunftsprojekt bezeichnet - was ist anders als in anderen Werken?
In Cottbus werden wir die 137 ICE 4 instandhalten, die die DB bestellt hat und von denen bereits über 100 im Betrieb sind. Der 13-teilige ICE 4 ist der längste Zug in unserer Flotte. Mit 450 beziehungsweise 570 m müssen die beiden Hallen lang genug sein, um die Züge ohne Trennen der Wagen instandhalten zu können. Durch den Einsatz eines Drehgestellwechslers können Drehgestelle direkt über die Seite ausgewechselt werden, ohne Heben des Zuges. Außerdem soll zunehmend Robotik eingesetzt werden, zum Beispiel für das Lösen von Schrauben. Auch die Lackierung wird wesentlich automatisierter umgesetzt werden als in anderen Werken. Cottbus wird unser modernstes Werk mit vielen digitalen Instandhaltungstechniken.
Nach der Pandemie: Wie entspannen Sie sich?
Nach der Pandemie? Ich bin nicht davon überzeugt, dass die Pandemie schon vorbei ist. Die größte Entspannung ist auf jeden Fall augenblicklich für mich, dass ich wieder unter Menschen sein darf und mir bereits alle Werke vor Ort persönlich anschauen und mit den Kolleginnen und Kollegen in den Dialog kommen konnte. Ich freue mich auch sehr, im Urlaub wieder Reisen unternehmen zu können, seien es Städte- oder Fernreisen. Außerdem treibe ich seit jeher viel Sport und seit der Pandemie ist Yoga dazugekommen.
Das Interview aus der Eisenbahntechnischen Rundschau 7-8/2022 führte Dagmar Rees.