Personen & Positionen

Michail Stahlhut: Die Realität erkennen und danach handeln

Michail Stahlhut; Quelle: Hupac

Michail Stahlhut ist als CEO des Intermodaloperateurs Hupac auf Schieneninfrastruktur angewiesen. Im ETR-Interview beschreibt er die Wechselwirkungen zwischen Infrastruktur und wirtschaftlichem Erfolg seines Unternehmens – und was verbessert werden könnte.

Sie haben vor Kurzem gesagt, dass die Probleme mit der Infrastruktur in Deutschland das Wachstum des Güterverkehrs im Allgemeinen und Ihres Unternehmens im Besonderen ausbremst. Woher nehmen Sie die Daten?

Wir arbeiten seit einigen Monaten intensiv daran, eine Projektion der Auswirkungen des Zustandes der Infrastruktur auf den Güterverkehr auszuarbeiten. Hierfür werten wir auf zwei unserer relevanten Strecken, Zeebrugge – Busto Arsizio und Köln – Busto Arsizio, aus, wo ungeplante Umleitungen auftreten und wie diese sich auf unsere Produktion und unsere Rentabilität auswirken.
Die notwendigen Daten für unsere Analysen sammeln wir im Betrieb. Ein Großteil der Güterwagen sind mit GPS ausgestattet, dadurch erreichen wir eine nahezu hundertprozentige Zuglaufverfolgung. So können wir nachverfolgen, auf welche Umleitungen wir geführt werden und werten diese Daten gezielt aus, um Abweichungen vom Fahrplan für uns planbar zu machen.

Wie oft wird vom Fahrplan abgewichen?

Wir haben hier pro Relation durchschnittlich 5 bis 10, aber auch bis zu über 20 unterschiedliche Laufwege, also ungeplante Umleitungen pro Tag. Unsere Auswertungen der vergangenen Monate haben dabei gezeigt, dass es bei den Umleitungen Muster gibt. Wenn solche Erkenntnisse von den Infrastrukturbetreibern ebenfalls genutzt würden, könnten die Kapazität in den Schienennetzen und die Rentabilität für die Nutzer verbessert werden.

Wie können unvorhergesehene Störungen geplant werden?

Unsere Daten zeigen, dass es auch bei Störungen Hotspots gibt, d.h. Störungen durchaus in einem vorhersehbaren Rhythmus und an vorhersehbaren Stellen auftreten. Diese Erkenntnis, gekoppelt mit der Analyse, dass bei Störungen einige wenige Standardrouten für Umleitungen angeboten werden, könnte dafür genutzt werden, mit Störungen vorausschauender umzugehen. So könnte ein Infrastrukturmanager gemeinsam mit seinen Kunden defi nieren, welche Umleitungen grundsätzlich möglich sind und bräuchte dann im Störungsfall nur noch sagen, ob Umleitung A, B oder C genommen wird. Dies kann dann auch relativ kurzfristig geschehen, denn die Kunden könnten sich bei einem solchen Vorgehen auf eine begrenzte Anzahl von möglichen Umleitungen einstellen und Rollmaterial sowie Personal entsprechend einplanen.

Sie wollen gleichzeitig mehr Flexibilität und mehr Planbarkeit - schließt sich das nicht gegenseitig aus?

Nein. Das heutige System mit den festen Fahrplänen erweckt den Anschein der Planbarkeit, doch da aufgrund der vielen Störungen jeden Tag dieser Fahrplan nie eingehalten wird, ist dies nur eine Schein-Planbarkeit. Eine Störung wird in diesem Denken als einmalige, unvorhersehbare Abweichung behandelt, für die mit viel Aufwand bei allen Beteiligten jedes Mal neu eine Einzellösung gefunden werden muss. Besser wäre es, sich von dem Idealbild des geordneten Fahrplans zu verabschieden und die Realität anzuerkennen, dass die Fahrpläne augenblicklich nicht eingehalten werden. Das heißt, Störungen müssten als Teil der Normalität gesehen und die Reaktion darauf antizipiert werden. Durch Digitalisierung ist es möglich, heute schon zu wissen, welche Störungen, Instandhaltungs- und Baumaßnahmen in den kommenden Wochen auftreten werden und welche Umleitungen sich anbieten. Wenn die Deutsche Bahn so vorgehen würde, könnte gebaut und gleichzeitig gefahren werden.

Ihre Züge fahren durch mehrere Länder – müssten nicht nur die Güterbahnen europäisch denken, sondern auch die Infrastrukturbetreiber?

Ja. Im Endeffekt müssen wir eine europaweite Disposition der Verkehre erreichen. Bis dahin muss das, was wir haben, besser gemanagt werden. Augenblicklich werden Eisenbahnen „fertig gemacht“, weil sie von einem Tag auf den anderen mit immer neuen Umleitungsvarianten konfrontiert werden, auf die sie nicht vorbereitet sind. Das Niveau der Trassenabkündigungen ist so hoch, dass es nicht mehr zu ertragen ist. Wir sind im europäischen und besonders dem deutschen Schienennetz kapazitativ an einem Punkt angelangt, an dem die Infrastrukturbetreiber ihre Restkapazitäten besser managen und bei Baustellen wirtschaftlich umsetzbare Umleitungen vorbereiten müssen. Ein Infrastrukturmanager kann nicht einfach sagen: Wir wollen bauen, deswegen wird es mehr Verkehr auf der Straße geben.

DB hat das korridorgerechte Bauen angekündigt.

Eine gute Idee. Solche Aussagen gab es zwar schon vor zwanzig Jahren – dennoch bleibt es eine gute Idee, deren Umsetzung uns allen weiterhelfen würde. Wichtig für mich ist, dass nicht nur das Bauen im Korridor, sondern auch die Umleitungen vorbereitet werden. Trassen sind für uns ein unverzichtbares Betriebsmittel - ohne Trassen kein Kombinierter Verkehr. Wir können es deshalb nicht akzeptieren, wenn die Kapazität einer Strecke durch Baumaßnahmen um mehr als 10 bis 20 Prozent eingeschränkt wird. Als Bereitsteller von Kombiniertem Verkehr sind wir Grundlastnutzer und Grundlast kann man ordentlich auf Umleitungsstrecken bringen. Unsere Züge sind wie ICEs: durchgeplant und durchgetaktet. Doch ein Containerzug kann nicht anhalten und die Fahrgäste bitten, selbst den Weg nach Hause zu finden. Ein Containerzug kann auch keinen Schienenersatzverkehr machen. Deshalb sind gut geplante, mit Blick auf die Wirtschaftlichkeit von Verkehren gestaltete Umleitungen unabdingbar. Und vielleicht müsste in dem einen oder anderen Fall auch einmal ein Personenzug auf die Straße verlagert werden, damit ein Güterzug fahren kann.

Wie viel Umsatz beziehungsweise Wachstumschancen ging Ihnen als Hupac bisher verloren durch die Probleme im deutschen Netz 2022?

Der Kombinierte Verkehr ist ein Wachstumsmarkt, mit potenziell jährlich 5 bis 7 % Zuwachsraten. In den ersten drei Monaten 2022 haben wir dieses Wachstum auch erreicht. Seit April, als 10 Tage lang die Rheinschiene bei Rastatt wegen Bauarbeiten kurzfristig gesperrt wurde, sind wir bei 1 Prozent Wachstum bei alpenquerendem Verkehr, bei allen anderen Verkehren bei 2 Prozent.

DB-Technikchefin Daniela Gerd tom Markotten sprach im ETR-Interview vergangenen Monat davon, dass die DB verstärkt Künstliche Intelligenz (KI) einsetzt. Zum einen bei der Baustellenplanung, so dass bei der Planung der Umleitungen ganz Deutschland in den Blick genommen wird und nicht nur einzelne Regionen; zum anderen, um Muster bei Störungen festzustellen, wie auch von Ihnen beschrieben. Wäre das der Schritt in die richtige Richtung?

Das wäre genial. Natürlich brauchen wir auch weiterhin menschliche Intelligenz. Schon heute wissen die Menschen im System durchaus, woran es hapert. Wichtig bei KI ist auch, dass die Randwerte richtig beschrieben werden. Wir benutzen bei Hupac ebenfalls KI für die Prognose von Ankunftszeiten, für die Optimierung der Güterwagendisposition und für die Projektion von Verkehrslaufzeiten. Daher wissen wir: Wenn eine AI-Engine falsch gefüttert wird, sind die Ergebnisse Schrott. Ein Infrastrukturmanager, der nur in deutschen Grenzen denkt, hat auch mit KI total verloren, da 50 % des Güterverkehrs in Deutschland international ist. Das heißt, wenn man nur Daten innerhalb der deutschen Grenzen nutzt, dann kommen die Auswirkungen von Störungen und Baumaßnahmen in den Nachbarländern unvorhergesehen ins deutsche Netz. Deshalb wäre mein Appell, auch an Frau Gerd tom Markotten, international zu denken und nicht nur deutsch. Deutschland liegt im Herzen Europas und muss die zentrale Rolle, die das deutsche Schienennetz in Europa einnimmt, akzeptieren und ihr gerecht werden.

Störungen können aus den Nachbarländern kommen – auch Lösungen?

Sicher. Wenn mein Zug von Antwerpen in Richtung Italien fährt und es eine Störung in Mannheim gibt, könnte er auch linksrheinisch über Frankreich umgeleitet werden, sofern kein P400 Profil notwendig ist. Eine solche Umleitung erfordert jedoch ein Denken und Handeln der Infrastrukturbetreiber über die Grenzen hinweg.

Die EU-Kommission will ausdrücklich, dass die Infrastrukturbetreiber mehr zusammenarbeiten. Für die Güterverkehrskorridore soll dies Rail Network Europe (RNE) vorantreiben. So soll schon jetzt gemeinsam an Fahrplänen für die Korridore gearbeitet werden. Kommt dies in der Praxis an?

Nein. Die Fahrpläne werden weiter innerhalb der nationalen Infrastrukturen erstellt. Unser Wunsch wäre deshalb eine Verstärkung der Macht der übernationalen Organisationen im Sektor Verkehr.

Wie stärkt man Macht und Einfluss einer übernationalen Organisation?

Mit Geld. Die auf den Korridoren erzielten Einnahmen aus internationalen Verkehren sollten der Korridormanagement-Organisation gehören. Dann müssten die nationalen Infrastrukturbetreiber beim Korridormanagement nachfragen, ob und welche Maßnahmen im eigenen Land vom Korridormanagement finanziell unterstützt würden. Natürlich müssten bei einem solchen Modell auch die Aufgaben des Korridormanagements neu definiert werden. Augenblicklich hat es nur eine reine Briefkasten-Funktion: Man schreibt an das Management des jeweiligen Korridors, dieses gibt die Anfrage an die nationalen Infrastrukturbetreiber weiter, und das war es. Ein Empowern der Korridore wäre sehr wünschenswert; es ist aber sehr schwer durchzusetzen, weil mehr Macht für das Korridormanagement weniger Macht für die nationalen Infrastrukturmanager bedeutet.

Die EU-Kommission hat erkannt, dass die ursprüngliche Idee der Güterverkehrskorridore mit einer europaweiten One-Stop-Buchung von Trassen nicht umgesetzt wurde. Das Thema wurde deshalb wieder hoch oben auf die Agenda gesetzt. Es sollen politische Vorgaben für ein europaweites Kapazitätsmanagement entwickelt werden. Sie sprachen schon über Geld und die Frage, wem die Trassenpreise für länderübergreifende Verkehre gehören - gibt es weitere Rahmenbedingungen, die verändert werden müssten?

Europa ist ein großer Wirtschaftsraum mit vielen großen Wirtschaftszentren, die untereinander verbunden werden müssen. Die beiden Zentren Ruhrgebiet und Norditalien erwirtschaften zusammen jährlich 500 Mrd. EUR Bruttoinlandsprodukt (BIP), die Nordseehäfen weitere 100 Mrd. EUR. Weitere Zentren sind in Polen, Frankreich, Spanien. Wenn wir an Europa glauben, müssen wir diese Zentren vernetzen, am besten mit der Eisenbahn.

Hupac baut vermehrt die West-Ost-Verbindungen aus, speziell Südosten und Südwesten?

Welche Entwicklungen erwarten Sie hier für den Güterverkehr. Abseits vom transalpinen Verkehr machen diese Verkehrsströme schon knapp 20 % der Verkehre bei Hupac aus. Wir sind überzeugt, dass die Wirtschaftsräume im Südosten, also Bulgarien, Rumänien, Ungarn, bis hin zur Türkei, deutlich mehr Gewicht für die Wirtschaft bekommen werden, da Industrie nach Europa zurückverlagert werden wird. Durch Terminalbaus wollen wir „Türen öffnen“ für diese neuen Verkehre.

Wir haben 2022 - Rail Freight Europe will bis 2030 einen Modal Split von 30 % erreichen, Deutschland etwas bescheidener 25 %. Ist dies noch erreichbar?

Die nächsten 10 Jahre werden und müssen Jahre des Umbruchs sein. Wenn wir tatsächlich in ganz Europa 740 m-Züge fahren könnten, brächte dies ein Kapazitätswachstum von 20 %. Wenn wir in Europa ETCS breit einsetzen würden, könnten wir weitere 10 bis 20 Prozent Kapazität generieren. Unter diesen Prämissen wären 25 % Modal Split bis 2030 erreichbar. Doch irgendwann ist die Grenze erreicht - für 30 Prozent Modal Split brauchen wir neue Infrastruktur. Außerdem dürfen wir nicht weiter die Kosten für den Schienenverkehr steigern. Umleitungen sollten so kostensparend wie möglich gestaltet werden. Dass die Trassenpreisförderung in Deutschland wegfallen soll, ist fatal. Wir brauchen Trassenpreise, die sich an den Grenzkosten orientieren, also 1,50 bis 1,60 EUR / km. Dass in Deutschland über eine Gemeinnützigkeit des Infrastrukturbetreibers nachgedacht wird, ist der richtige Schritt; meines Erachtens sollte auch die Oberleitung, also die Energie, hierzu gehören.

Ein Hindernis für das Wachstum des Güterverkehrs ist der unzureichende Datenaustausch. Was tun Sie, um hier voranzukommen?

Wir müssen als Eisenbahner unseren Blick weiten. Aus Sicht einer Bahn ist der Transport zu Ende, wenn die Lok abgehängt wird - für die Kunden nicht. Die Kunden wollen wissen, wann ihr Container unter Kran sein wird, so dass sie ihre Lkw disponieren können. Mit DX Intermodal (DXI) haben wir es, zusammen mit unserem größten Wettbewerber Kombiverkehr und vielen Eisenbahnverkehrsunternehmen und Terminals, geschafft, Transportgitter abzubilden. Wir müssen aufhören zu glauben, dass wir Kunden mit unserer Black Box, der dunklen, undurchdringlichen Welt des intermodalen Verkehrs, gewinnen können. DXI ist ein Werkzeug, die Black Box zu erhellen und die Transportverläufe transparent zu machen. Wir öffnen uns nicht für Broker, sondern für unsere Kunden. Künftig wollen wir auch Reedereien und Häfen in den Datenfluss einbeziehen.

Wäre ein EU-Standard für Datenaustausch wünschenswert?

Kombiverkehr und Hupac gemeinsam repräsentieren schon beinahe 50 % des Marktes. Wir nutzen bei DXI den Standard Ediges und stellen das System allen zur Verfügung. Kommerzielle Daten sind natürlich absolut geschützt und nicht offen einsehbar.

Eine private Frage: Wie entspannen Sie sich?

Wenn ich mit meinem Sohn, meiner Tochter und meiner Frau rede, ist das die reinste Entspannung. Außerdem habe ich das Wandern in den Bergen für mich entdeckt.

 

Das Interview aus der Eisenbahntechnischen Rundschau 10/2022 führte Dagmar Rees.

Artikel Redaktion Eurailpress
Artikel Redaktion Eurailpress