Michael Peter: Vielfältige Anforderungen an Nachtzüge
Nachtzugverkehr ist komplex. Michael Peter, CEO von Siemens Mobility, beschreibt, wie Design, Konstruktion und Vertragsgestaltung die Bedienung des Marktes erleichtern können.
Wann sind Sie zuletzt mit dem Nachtzug gereist? Warum und welche Strecke?
Zug fahre ich sehr gerne und regelmäßig. Meistens aber am frühen Morgen. Eine der beeindruckendsten Fahrten im Nachtzug war die Reise von Moskau nach Brjansk. Das ist eine sehr schöne Erinnerung.
Inwieweit kann ein Schienenfahrzeughersteller zur Wirtschaftlichkeit des Nachtzugverkehrs beitragen?
Im Nachtzugsegment aktiv zu sein, ist für unsere Kunden eine besondere Herausforderung. Ein Teil der Fahrgäste möchte eine stilvolle und besonders bequeme Reise genießen, ein anderer Teil kostengünstig, aber doch mit Privatsphäre klimaschonend unterwegs sein und der Geschäftsreisende, wünscht sich eine effiziente Reise, die ihn ausgeruht und pünktlich in wichtige Termine gehen lässt. Somit gilt es für Bahnbetreiber, das im Vergleich zu reinen Tageszügen sehr komplexe Produkt wirtschaftlich erfolgreich zu gestalten. Im Unterschied zu Tagreisewagen ist zum Beispiel die Beförderungskapazität bei Liege- und Schlafwagen deutlich geringer, außerdem ist jeder Schlafplatz pro Verbindung nur einmal verkaufbar. Wir unterstützen unsere Kunden dabei, in dem wir schon bei der Konzeption des Fahrzeugs mehrere kritische Parameter vereinen: Es gilt, alle Kundenanforderungen zu erfüllen, die Beförderungskapazität und damit die Wirtschaftlichkeit hoch zu halten, gleichzeitig muss das Fahrzeug durch die Gestaltung und konkrete Umsetzung eine hohe Akzeptanz bei Fahrgästen erreichen. Für eine wirtschaftlich notwendige hohe Auslastung ist ein gewisses Wohlfühlambiente nötig, was wir zum Beispiel durch den smarten Einsatz von hochwertigen Materialien erreichen. Wir können dabei auf unsere Erfahrungen mit dem ÖBB Railjet zurückgreifen, der ja ein erfolgreich etabliertes Premiumprodukt ist.
Hohe Wirtschaftlichkeit stellen wir auch durch den Einsatz zahlreicher Innovationen wie etwa einem Leichtbau-Drehgestell, das deutlich seltener gewartet werden muss als herkömmliche Typen, sicher. Auch durch die Gewichtsersparnis im Betrieb wirkt es vorteilhaft. Desweiteren werden zum Beispiel energiesparende Klimaanlagen mit Wärmepumpentechnik eingesetzt. Die Züge werden außerdem durch modulare Wartungskonzepte deutlich produktiver einsetzbar.
Selbst wenn die Züge bereits einige Jahre erfolgreich mit Fahrgästen unterwegs sind, begleiten wir sie noch weiter. Wir haben beispielsweise vorgesehen, dass die Zugkonfiguration entsprechend angepasst werden kann, wenn sich der Markt oder das Kundenverhalten auf bestimmten Strecken ändern sollte. Das ist ein weiterer wichtiger wirtschaftlicher Vorteil.
Laut einer Studie der TU Dresden ist für 50 % der Nachtzugreisenden die Wahrung der Privatsphäre ein entscheidender Faktor. Welche Konzepte setzen Sie um, um dies zu erreichen?
Privatsphäre ist tatsächlich das Anliegen, das die meisten Fahrgäste gemeinsam haben. Deswegen haben wir im Schlafwagenbereich Double-deluxe Abteile mit eigener Dusche und WC eingerichtet. Im Liegewagenbereich sind insgesamt 120 Plätze eingeplant, wobei es Familienabteile für bis zu vier Personen gibt. Alleinreisende werden sich in den Mini-Suiten wohlfühlen. Sie bieten mit eigener Klimaanlage, Steckdose, WLAN, Wireless-charging und einem individuellen Beleuchtungskonzept viel Flexibilität und gleichzeitig bei Schließen der Kapsel viel mehr Privatsphäre als dies bisher der Fall ist. Wir sind überzeugt davon, dass die Kunden von diesen Mini-Suiten begeistert sein werden, weil man sich nun nicht mehr an die Mitreisenden anpassen muss und zum Beispiel abends länger Licht eingeschaltet lassen kann, um zu lesen.
Die Nachtzüge erreichen eine Geschwindigkeit von bis zu 230 km/h. Ist dies überhaupt notwendig?
Entfernungen in Europa auch zwischen Hauptstädten sind vergleichsweise gering. Außerdem teilen sich die Nachtzüge nachts die Trassen mit den langsamen Güterzügen. Entscheidend für die Attraktivität des Produktes Nachtreisezug ist ja vor allem die Abfahrts- und Ankunftsuhrzeit. Auf manchen kurzen Strecken wird es tatsächlich nicht nötig sein, mit Höchstgeschwindigkeit unterwegs zu sein. Trotzdem gibt es auch in Europa Metropolen, die mehr als 1000 km voneinander entfernt sind und die man sinnvoll mit Nachtreisezügen verbinden könnte. Hier wird es nötig sein, die Höchstgeschwindigkeit auszunutzen, denn dies erhöht die Reichweite oder den Einsatzradius des Nachtzugs und beeinflusst die Wirtschaftlichkeit der Flotte stark. Das Trassenmanagement halte ich für lösbar, weil ja in Summe die Streckenbelegung trotz vermehrtem Güterverkehr nicht so hoch wie am Tage ist. Hilfreich wäre es natürlich, wenn angesichts des drohenden Klimawandels Nachtzüge in Form von europaweit bevorzugten Trassenvergaben gefördert werden würden, damit diese nachhaltige Art zu Reisen ihre Vorteile gegenüber Flugreisen oder dem Autoverkehr noch deutlicher ausspielen kann. Aber hier handelt es sich um eine politische Entscheidung. Desweitern macht eine Geschwindigkeit von bis zu 230 km/h die Nachtzüge zukunftssicher, da eine Diskussion geführt wird, ob auf einigen Trassen nur Züge zugelassen werden, die 230 km/h fahren können.
Die Rahmenvereinbarung mit der ÖBB zum Kauf der Tag- und Nachtzüge vom vergangenen Jahr sieht Ausstattungen für Österreich, Deutschland, die Schweiz und Italien vor, als Option auch die Ausrüstung für Kroatien, Polen, der Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn. Warum gibt es nicht auch die Option für den Einsatz in westeuropäischen Ländern wie Niederlande, Belgien, Dänemark oder Frankreich?
Wir orientieren uns hier an der gewünschten Spezifikation unserer Kunden. Grundsätzlich ist es eine der Stärken von Siemens Mobility, Fahrzeugzulassungen in unterschiedlichen Ländern zu erlangen. Eine Erweiterung des Einsatzspektrums bei zukünftigen Abrufen ist jedenfalls machbar und würde aus unserer Sicht das Konzept in ganz Europa erfolgreich machen.
Sind Reisezugwagen von Siemens ein europäisches Thema beziehungsweise wie setzen Sie das Tag- und Nachtreisezugkonzept weltweit um?
Wir sehen derzeit eine stark wachsende Nachfrage nach Reisezugwagen, vor allem in Nordamerika und Europa. Teilweise handelt es sich um Erneuerungen veralteter Flotten, teilweise sorgen die geänderten Werte unserer Gesellschaft für mehr Nachhaltigkeit und der Kampf gegen den Klimawandel für eine entsprechend gestiegene Nachfrage. Letztendlich ist die Schiene auf der Kurz- und Mittelstrecke die umweltfreundlichste Reisevariante. Daher sind wir zum Beispiel auch in den USA bei drei großen Reisezugwagenprojekten engagiert. Für das Nachtzugsegment lässt sich diese Aussage nicht verallgemeinern, hier unterscheiden sich die Märkte teilweise doch sehr stark. Beispielsweise gibt es in Kanada und den USA durchaus Nachfrage nach Nachtreisezügen, dies ist aber eher dem Segment Luxusreisen zuzuordnen. Weil man in diesen Zügen durchaus mehrere Nächte und Tage verbringt, haben sie mit der Ausstattung eines Nachtzugs für Europa eher wenig gemeinsam.
Vor der Coronavirus-Krise erlebten wir eine Renaissance des Nachtzugverkehrs – zumindest waren immer mehr EU-Länder bereit, Nachtzugangebote zu fördern. Was erwarten Sie als Auswirkung der Krise? Wird sich das Mobilitätsverhalten der Menschen aus Angst vor Ansteckung ändern?
Ich gehe davon aus, dass die Zahl der Reisenden analog zur wirtschaftlichen Entwicklung erst allmählich wieder auf das Vor-Krisenniveau zurückkehren wird. Mittel- und langfristig hingegen wird es weiterhin die Notwendigkeit geben, Mobilität klimaneutral – also ohne CO2-Emissionen – abzuwickeln, und dafür haben wir schon heute das richtige Angebot. Beispielsweise arbeiten wir aktuell daran, Züge mit besonders gut filternden Klimaanlagen ausstatten zu können, um etwaige Sorgen der Fahrgäste beruhigt ausräumen zu können. Mit den Mini-Suiten sind die Fahrgäste außerdem auch räumlich von anderen Reisenden getrennt, wenn sie dies wünschen.
Auf gesellschaftlicher Ebene hat die aktuelle Pandemie bei vielen Menschen das Bewusstsein für eine intakte Umwelt gesteigert. Daher bin ich sehr zuversichtlich, dass nachhaltige Mobilität auf der Schiene auch in Zukunft eine große, wenn nicht sogar größere Nachfrage als bisher vorfinden wird. Die neuen Tag- und Nachtzüge der ÖBB werden ganz besonders raschen Zuspruch bei den Fahrgästen finden.
Eine private Frage: Wie entspannen Sie sich?
Am besten entspanne ich mich beim Sport. Mit großer Begeisterung verfolge ich die Erfolge der Eintracht Braunschweig. Wenn es die Zeit erlaubt, bin ich gern aktiv und laufe durch die Parks von Berlin.
Das Interview aus der Eisenbahntechnischen Rundschau 3/2021 führte Dagmar Rees.