Maria Leenen: Die Konzentration geht weiter
Maria Leenen ist Geschäftsführende Gesellschafterin des Beratungsunternehmens SCI Verkehr. Sie sieht einen Nachfragerückgang im Schienenverkehr weltweit und insgesamt eine weitere Konzentration in der Bahnindustrie.
Welche Auswirkungen wird die Corona-Pandemie mittel- bis langfristig haben, weltweit und in Europa?
Die Kernfrage ist, wie sich die Pandemie und ihre Folgen in der Wirtschaft der jeweiligen Länder und Regionen entwickeln wird und über welche Möglichkeiten die öff entlichen Haushalte verfügen. In unserer Studie zu den Auswirkungen der Pandemie haben wir deshalb drei Szenarien unterschieden: Rapid Recovery (V-Kurve), eine zweite Welle bzw. eine längere Talsohle (U-Kurve) und eine grundlegende Krise der Wirtschaft (L-Kurve). Bei vielen unserer Aussagen gehen wir von der U-Kurve aus, da sie uns als die Wahrscheinlichste erscheint.
Wie schätzen Sie die Entwicklung des Personenverkehrs in den kommenden Jahren ein?
Insgesamt sehen wir, dass sich die Nachfrage im Personenverkehr, die in den vergangenen Jahren steil gewachsen ist, „beruhigen“ beziehungsweise zurückgehen wird. Die Lockdowns der vergangenen Monate haben die Nachfrage auf teilweise unter 10 % des üblichen Wertes gedrückt. Doch auch ohne erneute Lockdowns erwarten wir auch mittelfristig eine geringere Nachfrage im Personenverkehr, weltweit. Zum einen, weil Menschen – wenn möglich – auf Verkehrsmittel wie PKW und Fahrrad umsteigen, weil sie sich dort sicherer fühlen. Zum anderen, weil Unternehmen und Angestellte die Vorzüge des Home-Office erkannt haben. Dieses hat sich etabliert und wird uns erhalten bleiben, auch ohne Corona. Wenn diejenigen, bei denen Home-Office möglich ist, auch nur einmal pro Woche von zu Hause arbeiten, sinkt die Mobilitätsnachfrage dieser Gruppe schon um 20 %.
Im Personenfernverkehr gibt es gegenläufige Tendenzen. Zum einen kann der Personenfernverkehr Fahrgäste gewinnen, die bisher eher das Flugzeug genutzt haben. Zum anderen haben sich Video-Konferenzen über das Internet etabliert, sodass wir von einem anhaltenden Rückgang bei Geschäftsreisen insgesamt ausgehen.
Wie entwickelt sich der Schienengüterverkehr?
Beim Schienengüterverkehr sehen wir auch einen Rückgang, getrieben durch den generellen Konjunktur-Einbruch. Da in manchen Ländern die erste Welle noch lange nicht vorbei ist und auch in anderen Ländern die Zahl der Corona-Infi zierten wieder steigt, ist davon auszugehen, dass die Weltwirtschaft erst einmal nicht zur Ruhe kommt. Dies schlägt sich in der Transport-Nachfrage nieder.
Was sind die Folgen dieser Entwicklungen für die Bahnwirtschaft?
Beim Rollmaterial prognostizieren wir im Personenverkehr in Zentraleuropa und besonders in Deutschland noch keine großen Einbrüche. Zum Teil werden Corona-Konjunkturprogramme sogar stimulierend wirken. In Ländern, deren Wirtschaftskraft schwächer ist, wird allerdings die eine oder andere Beschaffung um einige Zeit verschoben werden. Auf Ebene der Kommunen sehen wir ein Verschieben von Beschaffungen in Fahrzeuge oder den Fahrweg weltweit, auch in Deutschland: Angesichts durch Corona-Aufwendungen geleerten Stadtkassen wird vielerorts erwogen, die Beschaffung von U- oder Straßenbahnwagen nach hinten zu verschieben beziehungsweise statt einer Neubeschaffung doch noch einmal eine Sanierung der vorhandenen Flotte vornehmen.
Wie sieht die Situation beim Rollmaterial für den Güterverkehr aus?
Beim Rollmaterial im Güterverkehr erleben wir eine deutlich stärkere Sensibilität der Nachfrage, bei Lokomotiven wie auch bei Güterwagen. Die Unternehmen werden in ihren Beschaffungen vorsichtiger, zumal die Nachfrageschwäche nicht nur auf einen Wirtschaftssektor begrenzt ist. Es gibt allerdings auch einige Unternehmen, die antizyklisch beschaffen, die also in einer Krise Rollmaterial kaufen, weil sie angesichts der allgemeinen Nachfrageschwäche einen günstigeren Beschaffungspreis aushandeln können. Gerade zu Beginn einer Krise, wenn noch Liquidität in den Unternehmen vorhanden ist, ist dies häufig zu beobachten.
Der Schienengüterverkehr gilt als die klimaschonendste Verkehrsart. Kann Klimaschutz den Nachfragerückgang durch Corona positiv überlagern, das heißt, geht die Transportnachfrage zwar insgesamt zurück, doch die Schiene kann sich mit dem Klimaschutzargument einen größeren Marktanteil sichern?
Schwer zu sagen. Heute muss man sich die Schiene leisten können. Augenblicklich beobachten wir einen ruinösen Wettbewerb auf der Straße, der auch die Bahnen massiv betrifft, wenn Verkehre durch LKW-Transporte substituiert werden können. Die Schiene hat außerdem durch den überwiegend elektrischen Antrieb stabile Energiepreise, während der LKW einen niedrigeren Dieselpreis viel flexibler weitergeben kann. Hinzu kommt ein harter Wettbewerb zwischen den Schienengüterverkehrsunternehmen. Insgesamt ist Markt nicht gesund – wenn es nicht gelingt, auskömmliche Preise im Güterverkehr insgesamt zu realisieren, wird auch der Klimaeffekt nicht helfen. Es sei denn, es wird ordnungspolitisch eingegriffen.
Ist Klimaschutz als Argument für die Schiene passé?
Auf keinen Fall! Es gibt theoretisch ein großes Interesse der verladenden Wirtschaft, auf die Schiene zusetzen, um ihre CO2-Bilanz aufzuwerten und mit grüner Mobilität werben zu können. Doch die Güterbahnen sind hierauf noch nicht ernsthaft genug ausgerichtet. Der Klimaeffekt müsste von ihnen quantifiziert und damit nachweisbar und kalkulierbar an die Kunden vermittelt werden. Solange „Schiene“ nur ein Imageblümchen ist und kein berechenbarer Faktor in der CO2-Bilanz eines verladenden Unternehmens, bleibt es bei der Theorie.
Sie sprachen vorher von ordnungspolitischen Maßnahmen – woran denken Sie?
Meines Erachtens müssen wir uns grundsätzlich fragen, ob der Markt den Güterverkehr so regeln kann, wie dies gesellschaftlich gewünscht ist. Wir sehen ja an den anhaltenden Verlusten bei DB Cargo, dass es rein marktwirtschaftlich kaum möglich ist, den Güterverkehr in der Fläche profitabel zu machen. Unsere jährlichen Betreiberanalysen zeigen in ganz Europa kaum Beispiele dafür, dass nennenswert positive Margen im Schienengüterverkehr erwirtschaftet werden. Die geringe Wirtschaftlichkeit der Güterbahnen ist also kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem. Deshalb muss der Staat in irgendeiner Art und Weise Maßnahmen ergreifen, wenn er die Verkehrswende will. Vor diesem Hintergrund ist auch die Diskussion um die Verteilung von Zuschüssen beziehungsweise Fördermitteln zur Abmilderung der Corona-Krise zu sehen. Denn die Zahlung von Transferleistungen wirkt sich immer auf den Markt aus.
Bei den Fahrzeugherstellern ist mit der Genehmigung der Übernahme von Bombardier durch Alstom ein weiterer Gigant entstanden, der weltweit im Umsatz zwar nicht an CRRC heranreicht, doch zumindest an zweiter Stelle steht. Was halten Sie davon?
Es wird sich zeigen, ob ein starker oder ein schwacher Gigant entsteht. Industriepolitisch, auch vor dem Hintergrund des Erhalts von Arbeitsplätzen in Deutschland, ist die Entscheidung nachvollziehbar – wettbewerbspolitisch gibt es in einigen Segmenten starke Fragezeichen. Schließlich haben Bombardier und Alstom bei Triebwagen in Frankreich einen Marktanteil von 100 % und in Deutschland von 70 %. Das Zugeständnis, die Werke in Hennigsdorf und Reichshoffen zu verkaufen, ändert an der Marktbeherrschung nichts Grundsätzliches.
Mit dem neuen Unternehmen soll ein europäischer Champion entstehen, gerade auch im Hinblick auf die wachsende Bedeutung von CRRC.
Ich persönlich habe keine Angst vor den Chinesen – sie kochen auch nur mit Wasser und ihnen gelingt längst nicht alles. Gleichwohl gilt, dass es darauf ankommt, wo Entscheidungen getroffen werden: Chinesische oder japanische Hersteller werden bestrebt sein, das Engineering in ihren Ländern zu behalten und werden hier in Europa hauptsächlich Fertigungsstätten haben. Das ist nicht das, was unsere Bahnen in Europa wollen. Auch industriepolitisch wollen wir eine starke europäische Bahnindustrie, die an der Spitze der technologischen Entwicklung steht.
Abgesehen von China gibt es auch in Russland und den USA zunehmend wichtiger werdende Hersteller.
Gerade die USA wird vielfach nicht beachtet, dabei hat sie mit GE/Progressrail und Wabtec in den vergangenen Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen. Geostrategisch versucht Russland mit Transmashholding auf den Märkten außerhalb Russlands und der GUS-Staaten Fuß zu fassen. Die Erfolge sind noch nicht groß, doch die Anstrengungen sind spürbar. Ich kann mir vorstellen, dass sie sich mittelfristig auch positionieren können – wenn auch nicht unbedingt in Zentraleuropa. Hier ist die Höhle des Löwen, das spüren alle Anbieter aus nicht-europäischen Ländern, auch die aus China. Natürlich hat das auch mit der Struktur des Systems Bahn in Europa zu tun: Wir sind unendlich kleinteilig. Die Losgrößen sind klein, der jeweilige Anpassungs- und Zulassungsbedarf dagegen erheblich – das wird sich auch absehbar kaum ändern.
Ist mit der Übernahme von Bombardier durch Alstom der Markt für einige Zeit konsolidiert?
Nein. Die Konzentration wird weitergehen. Wir rechnen damit, dass wir letztendlich einen Markt haben wie in der Luftfahrt mit sehr wenigen großen Herstellern. Hier ist zu fragen, ob dies wirklich dem Interesse der Verkehrsunternehmen entspricht. Der Bau von Schienenfahrzeugen ähnelt eher dem Anlagenbau, wir haben keine Serienproduktion mit großen Stückzahlen wie in der Autoindustrie. Die Produktion von Schienenfahrzeugen hat Mittelstands-Charakter – doch wenn der Mittelstand immer mehr aus der Bahnindustrie verschwindet, wird man sehen, ob es die Großen schaffen, die Anpassungen an die individuellen Wünsche der Verkehrsunternehmen zu leisten. Es wird davon abhängen, ob die Hersteller es schaffen, eine überzeugende Plattform-Politik umzusetzen: Flexible, individuelle Modelle für die Kunden, die aber in der Produktion so als Plattformen aufgesetzt sind, dass die Losgrößen eine rentable Produktion erlauben. Hierfür muss man nahe am Kunden sein. Dies ist die große Chance, unsere heimische Industrie zu stärken und mit dieser Stärke hinaus in die Welt zu gehen.
Eine private Frage: Wie entspannen Sie sich?
Meine größte Entspannung stellt für mich der Sport dar. Egal ob beim Joggen, Rennradfahren oder beim Standup-Paddling – Hauptsache ich kann einmal am Tag „weit gucken“ und dabei meinen Gedanken freien Lauf lassen.
Das Interview aus Eisenbahntechnische Rundschau 9/2020 führte Dagmar Rees.