Josef Stoll
5G wird die Bahn in ihrem Kern verändern
Josef Stoll ist Chief Technology Officer & Head of Technical Innovation bei der Deutschen Bahn. Im Gespräch mit der ETR beschreibt Stoll die Welt von Morgen, wie sie der neue Mobilfunkstandard 5G ermöglicht: automatisiertes Fahren, digitale Züge und Bahnhöfe.
Was sind die technischen Herausforderungen der Zukunft bei der Bahn?
Automatisiertes Fahren und die Digitalisierung im System Bahn unter Nutzung zukünftiger Standards wie 5G.
Wie kann 5G der Bahn nutzen?
Heute arbeitet das Mobilfunknetz mit fest installierten Antennen, die Signale empfangen, verteilen und senden. Morgen, mit 5G, wird jedes Tablet, jedes Smartphone selbst zum Sender. Dadurch verfügen wir in Zukunft über Abermillionen zusätzlicher Sendeeinheiten – jeder Fahrgast ist ein kleiner Sendemast. Wir brauchen möglicherweise kein GSM-R mehr, weil wir sicher sein können, dass immer genug Datenübertragungskapazität zur Verfügung steht. 5G schafft für uns ein milliardenfaches Mikronetz. Und das mit einer Latenzzeit unter einer Millisekunde in einer Geschwindigkeit, die wirklich Echtzeit ist.
Was vor 25 Jahre das Internet begonnen hat, dass es Abermillionen Rechner weltweit zu einem Netz zusammengeschlossen hat, findet also mit 5G auf der Ebene der Funkübertragung statt.
Genau. Wir können es auch mit dem Smart Grid vergleichen, bei dem Millionen Energieerzeuger und -abnehmer Energie austauschen.
Zukünftig kommunizieren die Lokomotiven untereinander, ohne Leitzentrale. Und die Fahrgäste tragen mit ihren Tablets und Smartphones das Netz bei sich.
So könnte es aussehen. Wir brauchen nicht mehr darüber zu diskutieren, wieviel Antennen wir entlang der Bahngleise brauchen. Wir brauchen uns auch um das ETCS der Zukunft keine Gedanken mehr zu machen. Wir könnten jede einzelne Weiche mit 5G ausstatten und brauchten kein Stellwerk mehr. Wir arbeiten in der Leit- und Sicherheitstechnik dann nur noch mit den vier Komponenten Fahrzeug, Weiche, Bahnübergang und Bahnhof.
In der neuen 5G-Welt würden die Fahrzeuge selbst dafür sorgen, dass sie den notwendigen Abstand, also beispielsweise die 3,5 km für einen ICE, einhalten.
Mit 3,5 km Bremsabstand rechnen wir schon auf der sicheren Seite. Es ginge nur noch darum, den effektiven Bremsabstand einzuhalten, der sich aus Zuggewicht, Geschwindigkeit, Bremsleistung und Topographie ergibt. In der digitalen Welt kann dabei nicht nur die Geschwindigkeit, sondern auch das effektive Gewicht des Zuges genau ermittelt werden. JR East weiß schon heute minutenscharf, wie schwer seine Züge sind, weil in die Drehgestelle Gewichtssensoren eingebaut sind. Wenn wir auf optimierten Bremsabstand fahren, dann kommt ein Zug sicher 20?cm vor dem Puffer des anderen Zuges zum Stehen. Die Straße macht es uns vor: beim Roadtrain bremsen zukünftig die Lastkraftwagen gleichzeitig, so dass der Bremsabstand minimal sein kann.
Wie sieht es mit der Cybersicherheit aus? Die Züge fahren zwar auf der Schiene sicherer, weil technisch ein Zusammenstoß unmöglich ist, doch was ist, wenn das System gehackt wird?
Erstmalig ist es bei der Entwicklung eines Mobilfunkstandards so, dass gleichzeitig mit der Technik an sich auch die Sicherheitskonzepte entwickelt werden. 5G wird sicherer sein als 3G oder LTE.
Der Sektor Bahn müsste sich jedoch schon heute an der Entwicklung der Sicherheitskonzepte beteiligen, um sicherzugehen, dass ein Standard entwickelt wird, der seinen Sicherheitsanforderungen genügt. Wir dürfen uns nicht zurücklehnen und andere machen lassen, sonst laufen wir Gefahr, 5G als Instrument der Steuerung unserer Technik zu verlieren. Wenn wir erst in einigen Jahren unseren Bedarf anmelden, wird es zu spät für Anpassungen sein.
Die 5G-Technik wird von Huawei entwickelt und augenblicklich in München getestet. 5G soll 2020 marktreif sein. Ist der europäische Bahnsektor zögerlich, weil die Kernkompetenz in China liegt?
Bisher sehen viele Mobilfunk als Consumer-Thema an und nicht als etwas, dass die Bahn in ihrem Kern verändern wird. Sicher ist, dass Huawei mit der Technik in Europa auf den Markt kommen und den Markt durchdringen wird. Dies könnte auch Auswirkungen auf den Roll-out und die Weiterentwicklung von ETCS haben.
Sie sind an der richtigen Stelle, um die Bahn auf die neuen Chancen vorzubereiten.
Ja und Nein. Durch die Bahnreform ist der Konzern stark segmentiert. Wenn wir die Bahn der Zukunft vorantreiben wollen, geht das nur im integrierten Konzern. Wir sehen es an ETCS: Die Technik müsste gleichzeitig bei der Infrastruktur und in den Fahrzeugen eingeführt werden. Stattdessen haben wir bei der Software jetzt schon gravierende Unterschiede.
Sie wollen die Bahn als System stärken.
Wir müssen in der Zukunft bei der Technik wieder integrierter denken. Augenblicklich divergieren Infrastruktur und Fahrzeuge, es wird zu wenig gemeinsam entwickelt. Ich bin überzeugt, dass wir auch energetisch effizienter fahren könnten, wenn gemeinsam daran gearbeitet würde, das Rad-Schiene-System zu verbessern. Das berücksichtigt die EU mit ihrer Forderung nach Trennung von Netz und Betrieb nicht.
Die EU verbietet nicht das Denken und Arbeiten im System, sie will nur, dass die beiden Bereiche wirtschaftlich unabhängig sind.
Unternehmen, die wirtschaftlich unabhängig sind, entwickeln sich im Laufe der Jahre auseinander. Wenn Sie die Zukunft denken, müssen Sie die Probleme im System sehen. Doch nach 20 Jahren Bahnreform denkt man zu wenig über die Wechselwirkungen von Infrastruktur und Bahn nach. Anderes Beispiel: Wir könnten ETCS viel schneller ausrollen, wenn wir es – wie in Großbritannien – schaffen würden, dass auch die ETCS-Komponente im Fahrzeug Bestandteil der Infrastruktur ist. Dann würden wir die Umrüstung auf ETCS auch anders finanzieren. Sonst sagt Ihnen jedes EVU, dass kein Geld dafür da ist, solange es mit dem alten System noch sicher fahren kann.
Die einzelnen Geschäftsfelder der Bahn entwickeln augenblicklich Bahn 4.0 Projekte. Sind diese abgestimmt?
Wir sind dabei. Es gibt seit 3 Monaten ein Kompetenzcenter Digitalisierung unter der Leitung von Rüdiger Grube, in dem alle 4.0 Initiativen zusammengeführt werden. Wir bräuchten solch eine Zusammenarbeit auch bei anderen Themen, wie Hybride, aber auch Leit- und Sicherungstechnik (LST) und Fahrzeuge. LST wird derzeit evolutionär weiterentwickelt. Es wird jedoch nicht gefragt, ob vielleicht zukünftig das Fahrzeug Aufgaben übernehmen kann, die heute die LST hat.
In der 4.0-Diskussion weltweit geht es auch um Transformation oder Disruption.
In dem Maße, wie wir die einzelnen Initiativen gemeinsam kennen und betrachten, merken wir, dass sich immer neue Fragen ergeben, dass der Horizont weiter wird. Wir werden an einen Punkt kommen, an dem wir bei dem einen oder anderen Projekt sagen müssen: Das läuft in die falsche Richtung, da müssen wir das Projekt zügig neu ausrichten. In einem großen Konzern wie der Deutschen Bahn ist dies natürlich eine große Herausforderung, denn es wurde Zeit und Geld investiert.
Müssten auch Forschungsinitiativen wie Shift2Rail überdacht werden?
Bei Shift2Rail haben sich die Bahnen zu lange zurück gehalten. Das führte zu einer politischen Schräglage: Wegen der geringen Beteiligung der Bahnen werfen EU-Politiker dem Programm inzwischen vor, ein Selbstbedienungsladen der Industrie zu sein. Das müssen wir Bahnen ändern, denn wir brauchen die Forschungsunterstützung - wenn auch einige Projekte nach heutigem Stand der Dinge verändert werden müssten.
Die Deutsche Bahn hat im Rahmen des neuen Fernverkehrskonzeptes große Investitionen angekündigt. Müsste das alles noch einmal überdacht werden?
Wenn wir heute beschaffen, müssen wir das Morgen vorausdenken – und nicht nur technisch. Wir müssen uns auch fragen, wer in 15 Jahren mit unseren Zügen fahren wird: Wie sehen diese Menschen aus und wofür benutzen sie unsere Züge? Ein Beispiel: Heute arbeiten wir stark an der Barrierefreiheit, die ja auch gesetzlich vorgeschrieben ist. Doch es ist durchaus vorstellbar, dass in 15 Jahren die Einschränkungen der Menschen aufgrund von technischen und medizinischen Weiterentwicklungen geringer sind, dass zum Beispiel bis zu 70 % der Menschen, die heute im Rollstuhl sitzen, nicht mehr im Rollstuhl sitzen werden, weil sie ein Exoskelett tragen.
Wie sieht Mobilität in 15 Jahren aus?
Der durchschnittliche Bahnkunde ist 38 Jahre alt. Wer in 15 Jahren 38 ist, ist heute 23 Jahre alt. Für diese Altersgruppe ist W-LAN nichts Besonderes, sondern ein Grundbedürfnis. Autos werden nicht besessen, sondern genutzt. Man sucht sich gleichgesinnte Ride-Sharer, mit denen man sich beispielsweise auf dem Weg zur Arbeit über die Fußballergebnisse austauschen kann. In 15 Jahren ist das autonom fahrende Auto nicht nur technisch ausgereift und sicher, sondern auch in der Bevölkerung akzeptiert. Außerdem fährt es elektrisch. Wir als Bahn müssen uns ernsthaft die Frage stellen, was diese Entwicklungen für uns bedeutet.
Was für Konsequenzen hat ein weitgehend autonomes Fahren auf den Straßen für die Bahn?
Der Verkehr unter 300 km wird hinterfragt. Beim Fernverkehr muss gesichert sein, dass die Fahrgäste im Bahnhof schnell in andere Verkehrsmittel umsteigen können, denn warten wollen Menschen, die an Echtzeit gewöhnt sind, nicht mehr. Die Bahnhöfe müssten vielleicht so umgebaut werden, dass schon bei der Einfahrt eines ICEs an der anderen Bahnsteigseite kleine, selbstfahrende Elektroautos warten, die die Fahrgäste vorher per Smartphone bestellt haben. Wir brauchen also nicht nur neue Konzepte für Fahrzeuge und Steuerung, sondern auch neue Bahnhofskonzepte.
Welche Änderungen wären beispielsweise beim ICx notwendig?
Beim ICx könnte man nur noch etwas an der 3. Tranche ändern. Wir müssten uns heute entscheiden, ob wir in 10 Jahren unsere Kunden in unsere eigene digitale Welt führen wollen oder puristisch sagen, dass die Kunden ihre eigenen Geräte und ihre eigene Unterhaltung selbst mitbringen.
Wollen wir, dass sie unsere Welt betreten sobald sie den Zug bestiegen haben, müssten wir beispielsweise heute schon daran denken, dass die Kunden dann die digitalen Angebote der DB nutzen. Um marktgenauer fahren zu können, wäre auch die virtuelle Kupplung wichtig. Und schließlich sollten Komponenten modularer aufgebaut sein, so dass der Austausch einer Steuerungskomponente nur noch wenige Stunden statt 1 bis 2 Tage dauert. Und schon bevor 5G kommt, müssten unsere Empfänger sämtliche vorhandene Mobilfunknetze gleichzeitig nutzen und nicht wie heute nur das Stärkste.
Was wird sich beim Güterverkehr ändern?
Wenn die Roadtrains automatisiert auf den Straßen fahren, wird der Güterverkehr auf der Schiene weiter angegriffen. Nur noch schwere Güter und Langläufer werden auf der Schiene transportiert. Wichtig ist der schnelle Wechsel von Straße auf Schiene. Auch das Rangieren würde anders ablaufen. Wenn wir heute über superlange Züge bis 1500?m reden, brauchen diese künftig keine 1500?m langen Bereitstellungsgleise mehr. Ganzzüge mit Lokomotiven würden nur noch virtuell gekuppelt. Muss ein Teilzug in eine andere Richtung, öffnet sich der Verbund, entlässt den Zug und schließt sich wieder. So funktioniert es auch beim Roadtrain. In der digitalen 5G-Welt könnte es nur eine, zentrale Steuerzentrale für ganz Deutschland geben, die den Verkehr auf den Schienen lenkt: ein Megarechner, der alle Weichenstellungen und alle Züge kennt.
Was passiert bei Störungen?
Zu Beginn würden Mensch und Maschine parallel arbeiten, Der Computer merkt sich die Entscheidungen des Menschen und lernt dadurch. Ab einem bestimmten Zeitpunkt ist er in der Lage, die besten Lösungen selbstständig zu finden. Zumal er den Gesamtüberblick über ganz Deutschland hat.
Was man heute denkt, über Infrastruktur lösen zu müssen, kann morgen schon durch automatisches Fahren und Zentralisierung erreicht werden?
Ja. Deshalb müssen wir auch darauf achten, was die Straße macht. Nicht einmal vorrangig wegen der Konkurrenzsituation, sondern weil die Straße uns Ideen geben kann, wie der Bahnverkehr von morgen aussehen kann. Wir würden durch die Automatisierung erhebliche Kapazitäten gewinnen. Ein ETCS-Modellprojekt der Briten hat gezeigt, dass man 40?% mehr Verkehr auf die Schiene bringen kann. Auf unseren LZB geführten Strecken läge der Kapazitätsgewinn vielleicht nur bei 20?%, doch auch 20?% mehr Kapazität auf unserem heutigen Netz wäre phänomenal.
Im Prinzip bedeutet dies ein Umdenken von Bahn-Denken auf Logistik-Denken. Die Fahrzeuge, ob Güter- oder Personenverkehr, sind wie Transportwagen in einem automatisierten Logistiklager. Wie kann dieses Umdenken erreicht werden?
Die größte Herausforderung ist, über die Zukunft zu sprechen, ohne Ängste zu wecken. Wir sprechen von dem, was in 15 bis 25 Jahren sein könnte, und auch das nur bedingt. Es wird noch lange ein Nebeneinander der Welten geben. Die Menschen, die heute bei der Bahn arbeiten, werden die Bahn auch in 15 Jahren noch wiedererkennen. Doch wenn wir heute über Beschaffung von Zügen für 2030 nachdenken, muss uns die Welt von 2030 schon sehr präsent sein.
Ein wichtiger Schritt ist sicherlich auch, dass es zukünftig regelmäßige Treffen der Chief Technology Officers (CTO) der europäischen Bahnen geben wird. Wir wollen mit den individuellen Lösungen in Europa Schluss machen und der Politik sagen können, was sie uns geben muss, wenn sie ihre Verlagerungsziele erreichen will.
Außerdem müssen wir lernen „Political Engineering“ zu betreiben. Auch hier können wir von der Straße lernen: Die Automobilindustrie ist überall vertreten, wenn es darum geht festzulegen, wie unsere Zukunft aussehen soll. Teil unseres „Political Engineerings“ muss sein, eine neue Definition des Systems Bahn zu erreichen: die intelligente Zusammenarbeit von Netzkomponenten und Komponenten auf dem Fahrzeug. Entsprechend muss die Finanzierung überdacht werden. Dies würde dann allerdings auch bedeuten, dass Teile der Gelder zur Finanzierung der Infrastruktur an Eisenbahnverkehrunternehmen gehen.
Sie erweitern also den Blick vom System Bahn zum System Mobilität.
Wir haben in Braunschweig eine Stiftungsprofessur eingerichtet, bei der wir von den Entwicklungen in der Autoindustrie lernen wollen. Das neue Denken beeinflusst auch unsere Beschaffung. Die Autoindustrie produziert höhere Stückzahlen und verfügt über größere Forschungsbudgets als die Bahn. Hiervon können wir profitieren. Wir werden deshalb zunehmend bei der Auswahl unserer Komponenten mit Lieferanten zusammenarbeiten, deren Produkte sich in der Autoindustrie bewährt haben. Beispielsweise bringen wir in Kürze ein Testfahrzeug zum automatisierten Fahren auf die Schiene, das mit Kameras und Lasersystemen arbeitet, die in Automobilen bereits verwendet werden.
Müssen für Autos zugelassene Komponenten vom Eisenbahn-Bundesamt noch einmal zugelassen werden?
Ja. Wir müssen hier jedoch frühzeitig den Weg mit dem Eisenbahn-Bundesamt klären. Es gibt bereits heute eine gewisse Anerkennung von durch das Kraftfahrt-Bundesamt zugelassenen Teilen.
Hat die Bahnindustrie der Autoindustrie auch etwas voraus?
Wir sind augenblicklich auf der Infrastrukturseite besser auf das autonome Fahren vorbereitet. Soll ein Auto bei höheren Geschwindigkeiten autonom fahren, braucht es Informationen aus der Infrastruktur. Diese hat die Straße bisher noch nicht, wir schon. Und auch bei der Akzeptanz des autonomen Fahrens sind wir der Autoindustrie weit voraus. Unsere Kunden sind es gewohnt, die Verantwortung für das Fahren an uns abzugeben. Die Autoindustrie muss die Autofahrer erst langsam daran gewöhnen.
Eine private Frage: Wie entspannen Sie sich?
Allein schon über die Dinge nachzudenken, über die wir heute gesprochen haben, entspannt mich.
(Das Gespräch führte Dagmar Rees.)
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