Jan Grothe: Unsere Messlatte liegt für Alle hoch
Die Deutsche Bahn hat ohne die ausländischen Tochterfirmen ein Einkaufsvolumen von 20 Mrd. EUR. CPO Jan Grothe beschreibt, wie der Einkauf neue Unternehmensziele und gesellschaftliche Herausforderungen umsetzt.
Ist ein Einkauf „Made in Europe“, wie ihn beispielsweise der Verband der Bahnindustrie in Deutschland (VDB) fordert, aus Ihrer Sicht möglich beziehungsweise sinnvoll?
Zu großen Teilen ist dies möglich und zu großen Teilen auch sinnvoll. Das haben wir nicht zuletzt während der Corona-Pandemie erlebt. Doch wenn wir die Einkaufsstrategie der vom VDB vertretenen Unternehmen genauer betrachten, stellen wir fest, dass bei Vielen ein signifikanter Teil des eigenen Einkaufs aus Asien stammt. Die Unternehmen balancieren so Kosten und Risiken. Dies ist auch für uns der Grund über den europäischen Tellerrand hinaus zu schauen, um die wirtschaftlichsten, innovativsten und qualitativ besten Produkte zu bekommen.
Laut dem Innovationsreport der European Railway Agency (ERA) hat der chinesische Hersteller CRRC die meisten Patente im Sektor Rail angemeldet – vor den europäischen Herstellern.
Es gibt chinesische Firmen, die 30 % ihres Umsatzes in Forschung und Entwicklung investieren. Das ist in Europa heute überwiegend anders – hier bewegen sich die Unternehmen im Bereich von fünf bis zehn Prozent. Nicht von ungefähr werden wir in der nächsten Zeit eine ganze Reihe technischer Neuerungen insbesondere aus Asien sehen. Asien ist augenblicklich eine Innovations-Quelle. Ich hoffe sehr, dass dies Ansporn für europäische Firmen ist, wieder aufzuholen.
Was beziehen Sie aus Asien?
Die niedrigsten Marktbarrieren gibt es natürlich für den Allgemeinen Einkauf, während im Bereich Technik die notwendigen Zulassungen vorhanden sein müssen. Aus Asien beziehen wir manche Fahrzeug-Ersatzteile und teilweise auch Infrastruktur-Kleinmaterial. Bei den Fahrzeugen haben wir beispielsweise Autotransportwagen für DB Cargo aus Asien beschaff t. Es gibt nur wenige deutsche oder europäische, wirklich gute Güterwagenhersteller. Dieser Industriezweig ist aus Europa fast komplett verschwunden. Gleichzeitig wird sich die Nachfrage nach Güterwagen erhöhen, denn wir brauchen sie, um die Verkehrsleistung des Schienengüterverkehrs zu steigern und so die Klimawende zu unterstützen. Außerdem gibt es noch eine Erprobung mit zwei Kleinstloks in Hamburg von CRRC. Kein europäischer Hersteller hatte sich bei der Ausschreibung beteiligt.
Sie hatten betont, dass viele Innovationen aus Asien kommen; gleichzeitig kaufen Sie augenblicklich im Bereich Fahrzeuge so gut wie nicht in Asien ein – wird sich das in den nächsten fünf bis zehn Jahren ändern?
Wir fühlen uns im Fahrzeugbereich im Personenverkehr mit unseren Partnerschaften im europäischen Markt grundsätzlich wohl. Wir haben insbesondere für den Regionalverkehr auch schon mit osteuropäischen Herstellern daran gearbeitet, sie in das komplexe System einzubinden und für Deutschland zulassungsfähig zu bekommen. CRRC vermarktet aktuell offensiv, hat aber noch einen Weg im Zulassungsprozess vor sich.
Grundsätzlich gilt: Unsere Anforderungen sind an alle Lieferanten gleich, egal, woher sie kommen. Die Messlatte liegt für alle sehr hoch. Deshalb mögen es Lieferanten, mit uns in unseren anspruchsvollen Qualitätssicherungsprozess zu gehen. Ist dieser erfolgreich absolviert, können sie alle anderen Verkehrsunternehmen weltweit beliefern.
Die DB hat ein Büro in China – was fließt von dort aus ein?
Wir hatten gerade über Innovationen gesprochen. Die DB betreibt nicht nur Züge, sondern über DB Regio auch Busse. Bei Bussen mit E-Antrieb ist China sehr innovativ und weit voraus. Ein beispielhafter Input unseres Büros vor Ort war es, den Kontakt zu diesen umfassenden Erfahrungen im Elektrobusbereich herzustellen. Innovative Konzepte für alternative Antriebe für Busse, also Batterie und Wasserstoff, sind auch auf unsere sonstigen Fahrzeugflotten anwendbar.
Ansonsten sehen wir sehr viel technischen Fortschritt bei Themen wie Zugangsbeschränkungen und Zähl- oder Steuerungssystemen. Hier haben wir allerdings immer auch die hohen Anforderungen an die Datensicherheit im Blick.
Sie sprachen die Klimawende an. Wie kann ein Unternehmen wie die Deutsche Bahn nachhaltig einkaufen?
„Fokussierte Nachhaltigkeit“ ist eine unserer drei Top-Prioritäten. Dazu kommen Einsparungen über den gesamten Lebenszyklus bei gleichzeitigem Etablieren von qualitativen Werten wie Innovation, Qualität und Versorgungssicherheit, die wir „Ganzheitlicher Werttreiber“ nennen. Eine „intuitive Beschaffung“, die einen einfachen Beschaffungsprozess intern und extern umschreibt, schließt den Kreis.
Wir betrachten bei der Beschaffung von Investitionsgütern zunehmend den kompletten Lebenszyklus der Produkte. Wir haben für die Lieferanten Eignungskriterien inklusive Corporate Social Responsibility (CSR)-Anforderungen formuliert. In diesem Zusammenhang spielen die Sektorinitiative Railsponsible und die Nachhaltigkeits-Ratingagentur EcoVadis eine große Rolle, da wir Ratings unternehmensübergreifend anerkennen. Wenn also beispielsweise ein Lieferant für die SNCF einen EcoVadis-Score von 50 nachgewiesen hat, akzeptieren wir diesen auch für uns.
Wir werden in rund anderthalb Jahren soweit sein, dass alle Lieferanten ab einer festgelegten Wertgrenze einen Mindestscore an CSR-Rating haben müssen. Denn es geht um viel mehr als um CO2-Reduktion – beim CSR-Rating müssen auch Mindestmaßnahmen zum Beispiel in Bezug auf Arbeitsbedingungen und Kinderarbeit nachgewiesen werden. In Bezug auf CO2 arbeiten wir daran, dass wir einen CO2-Rechner in der Wertungsphase nutzen. Ein Lieferant, der unter einem in der Ausschreibung vorgegebenen Ziel liegt, bekäme einen Bonus, der sich dann in der Vergabe positiv auszahlt.
Klimaneutralität der DB war ursprünglich für 2050 vorgesehen und wurde auf 2040 vorgezogen. Erhöht sich der Druck auf den Einkauf?
Natürlich. Bei Produkten mit einer kurzen Lebensdauer oder Leistungen mit kurzer Vertragslaufzeit ist dies noch relativ einfach zu lösen. Schwieriger ist es bei den Heavy Assets wie Lokomotiven, die ja regelmäßig 40 Jahre lang eingesetzt werden. Hier sind wir eigentlich bei der Beschaffung schon in der Phase der Klimaneutralität angelangt. Das heißt, wir überlegen gemeinsam mit den Bedarfsträgern - unseren Geschäftsfeldern - schon heute, wie wir diese kapitalintensiven Güter klimaneutral einkaufen und was dies für Ausschreibungen bedeutet.
Klimaneutralität muss sich also von einem abstrakten Ziel in konkrete Entscheidungen und Geschäftsprozesse verwandeln?
Am Beispiel „Grünstrom“ kann man den Wandel schon heute gut verfolgen. Das Ziel ist, schon 2025 bei der DB zu 100 % Grünstrom einzusetzen. Das hat natürlich große Auswirkungen darauf, wie wir heute Strom einkaufen, und ob und in welchem Umfang wir Partnerschaften mit Solar- und Windparks oder anderen alternativen Energieerzeugern schließen.
Das Ziel Klimaneutralität 2040 wird folglich im gesamten Konzern auf alle Geschäftsfelder und Bereiche heruntergebrochen. Das bedeutet, dass dort die bisherigen Pünktlichkeits- und Budgetziele um konkrete Nachhaltigkeitsziele erweitert werden. Um diese Ziele zu erreichen, muss das jeweilige Management bei Zielkonflikten Trade-Off Entscheidungen treffen, also etwa Budget und Nachhaltigkeit gegeneinander abwägen. Das ist aber erst möglich, wenn zum Beispiel der angestrebte Ressourcenschutz in einem Zielsystem konzernweit komplett für alle Geschäftsfelder hinterlegt ist.
Klimaneutralität 2040 ist auch noch lange hin. Der UN-Klimareport hat unterstrichen, dass sofort gehandelt werden sollte. Warum dauert es so lange?
Weil es nicht reicht, nur die Ziele zu formulieren. Die DB als Einkäuferin von Produkten und Dienstleistungen ist darauf angewiesen, dass die einzelnen Industriesektoren, in denen wir beschaffen, ihrerseits Klimaneutralität als Ziel haben und konkret umsetzen. Beispielsweise wird es voraussichtlich noch mindestens bis 2025 dauern, bis die Stahlindustrie in der Lage ist, vollständig „grünen“ Stahl zu liefern. Klimaschutz ist eine gemeinsame Aufgabe, bei der alle Partner in der Lieferkette zusammenarbeiten müssen. Deshalb haben wir zum Beispiel auch für unsere größten Stahllieferanten Referenzen und Abnahmemengen zugesichert, damit sie Fördermittel bei der EU beantragen können. Auch Materialkreisläufe, die eine hohe Wiederverwertung ermöglichen, müssen weiterentwickelt werden. Die Voraussetzungen sind so gut wie noch nie, denn wir sehen erstmals unternehmens- und sektorenübergreifend einen Gleichklang der Ziele.
Als ETR-Redakteurin habe ich immer die Klage der Industrie im Ohr, man hätte so viele tolle Ideen und die DB sei immer ganz begeistert, doch wenn es um die konkrete Ausschreibung oder den Auftrag gehe, dann zähle doch nur der billigste Preis. Ich höre heraus, dass sich das jetzt ändert.
Ja. Doch alle Beteiligten müssen gerade im fremdfinanzierten Bereich daran arbeiten, dass sich das ändert und auch gemeinsam überall dafür werben, dass dies auch gefördert wird. Mittlerweile denken wir an den gesamten Sektor. Mit der Mission der „Starken Schiene“ sagen wir, dass man die Bahn in Summe voranbringen muss – einschließlich der Nicht-DB-Bahngesellschaften.
Sie hatten vorher über intuitiven Einkauf gesprochen – wie setzen Sie das um?
Einerseits sollen alle internen Besteller wie im Online-Handel mit wenigen Klicks einkaufen können. Konkret heißt dies, dass alle Geschäftsfelder jederzeit und in Echtzeit einsehen können, was von wem zu welchem Preis beschafft werden kann, und nach der Bestellung den Status der Lieferung und alle notwendigen Dokumente abrufen können.
Andererseits bedeutet der „intuitive Einkauf“ aber auch, dass die Lieferanten voll und ganz in unser Beschaffungssystem integriert werden. Der komplette Dokumentationsfluss findet dann ausschließlich elektronisch statt. Zwar war schon bisher das meiste digitalisiert, aber oft in getrennten Systemen. Ein Beispiel für Effizienzgewinn: Wenn der Lieferant seine Lieferbestätigung gibt, geht diese ins System ein und wird automatisch mit dem Auftrag abgeglichen. Gibt es eine Abweichung, wird sofort der Einkäufer alarmiert und er kann entsprechend reagieren und dem Lieferanten Feedback geben.
Diese Automatisierung ist unser Ziel bei Massengütern. Das Projektgeschäft bei Bauleistungen werden wir etwas anders bearbeiten, weil es dabei mehr um persönliche Kompetenz und Beratung geht. Hier steht der einheitliche Zugang zu allen Unterlagen im Vordergrund, also zu Entwürfen und Lastenheften sowie zu Anforderungs-und Projektmanagement und zur Qualitätssicherung. Das Ziel ist, alle Prozesse komplett digital abzubilden, sodass umfassende Transparenz entsteht, die es auch ermöglicht, die Performance eines Lieferanten eindeutiger zu bewerten als heute.
Es werden Routinearbeiten digitalisiert und automatisiert – gleichzeitig kommen neue Aufgaben wie die zuvor angesprochenen Bewertungsfragen hinzu. Bleibt die Abteilung gleich groß oder wird sie größer?
Die Digitalisierungsinitiative hat zwei Ziele: Zum einen soll die Effizienz im Standardgeschäft erhöht werden. Dies schafft mehr Zeit für Beratung, Interaktion und strategische Arbeiten beziehungsweise wachsendes Aufkommen bei gleicher Teamgröße. Zum anderen soll die Digitalisierung ermöglichen, zu besseren Entscheidungen zu kommen. So können beispielsweise Fahrzeugstillstände vermieden werden, die auf nicht rechtzeitigem Einkauf beruhen. Daten, die zusammengeführt und übergreifend ausgewertet werden, ermöglichen neue Wege im Einkauf. Wir analysieren mithilfe Künstlicher Intelligenz Preisstaffeln und optimieren den Abruf von Gütern anhand dieser Analyse.
Ein anderes Beispiel ist die Infrastruktur, wo Bedarfsvorschauen eine wichtige Rolle spielen. Früher wurden die Daten aus allen Regionen der DB Netz AG händisch zusammengeführt – es dauerte deshalb immer sehr lange, bis wir der Industrie die Übersichten geben konnten. Für die Lieferanten haben diese Ankündigungen jedoch eine große Bedeutung, weil sie besser abschätzen können, auf welche Ausschreibungen sie sich bewerben. Nicht zuletzt aus pragmatischen Gründen : Kapazitäten können viel besser gesteuert werden, wenn man weiß, dass eine Ausschreibung für eine Baustelle in der Nähe kommen wird und somit für die Mitarbeitenden attraktiv ist.
Was hat sich für Sie durch Corona verändert?
Bei der DB waren wir kommunikationstechnisch schon gut vorbereitet – durch Corona gab es keinen Strömungsabriss, weder bei uns noch in der Kommunikation zu den Lieferanten.Wir werden uns auch in Zukunft in den Teams sehr gut überlegen, wann wir ins Büro kommen oder welche Arbeiten effizienter über virtuelle Formen zu erledigen sind. Die Grundfrage ist: Welche Art der Interaktion, Begegnung und Kultur der Zusammenarbeit braucht ein Team, um seine Kraft optimal einsetzen zu können?
Für mich persönlich hat die Pandemie mit sich gebracht, dass ich meine Kinder öfter sehe und ich fast jeden Abend, egal wie spät es ist, eine Stunde mit meiner Frau spazieren gehe, um den Kopf wieder freizubekommen. Wir haben diese Zeit des gegenseitigen Austausches und der entspannenden Bewegung sehr schätzen gelernt und werden dieses Ritual sicher auch nach Corona beibehalten.
Das Interview aus der Eisenbahntechnischen Rundschau 10/2021 führte Dagmar Rees.