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Henri Werdel: Planung, Vorausschau und Stabilität

Henri Werdel; Quelle: CFL/Patrick Flammang

Henri Werdel ist Direktor Infrastruktur bei der luxemburgischen Bahn CFL. Er hat als erster Infrastrukturbetreiber in der EU ganzflächig ETCS eingeführt. Jetzt arbeitet er daran, den Betrieb im Netz flexibler und so stabiler zu machen.

Herr Werdel, welche Projekte beschäftigen Sie gerade?

Wir arbeiten gerade an der Umsetzung des Zielnetzes 2028+. Ein durchgehendes Projekt hier ist die Ertüchtigung von sämtlichen Bahnsteigen auf 250 m Nutzlänge im ganzen Land, also bei allen 68 Bahnhöfen und Haltestellen. Das wird uns in der Zukunft erlauben, diese Bahnsteige mit allen erdenklichen Zugzusammenstellungen zu bedienen und damit eventuelle Unregelmäßigkeiten im Betrieb besser abfangen zu können. Außerdem gibt es eine Neubaustrecke zwischen Luxemburg Stadt und Bettembourg, rund 10 km südlich von Luxemburg Stadt, wo das Güterverkehrszentrum ist. Die Neubaustrecke wird diese Region entlasten und ist ein wichtiger Bestandteil des Konzeptes 2028+.

Luxemburg hat eine Landesplanung, einen Mobilitätsplan und ein Zielnetz (siehe auch Seite 14). Sie wissen also, was von der Infrastruktur erwartet wird. Wie werden die Maßnahmen geplant und finanziert?

Alle die genannten Quellen fließen in die Entscheidungen zur Infrastruktur ein, nicht zuletzt aber auch die eigenen Bedürfnisse der Infrastruktur. Diese Projekte sind meist wenig spektakulär, jedoch notwendig, weil sie zum Substanzerhalt beitragen. Letztendlich münden die Daten, Vorgaben und Erkenntnisse in einen rollierenden Zehn-Jahresplan für die Infrastruktur, in dem die Investitionsprojekte festgehalten werden.  Die Genehmigung der Investitionen erfolgt jährlich auf Basis dieses gleitenden Zehn- Jahresplanes. Das heißt, finanztechnische Sicherheit gibt es nur für das kommende Jahr, aber die kommenden neun Jahre werden schon beziffert und dem Parlament vorgelegt.

Die Investitionen werden immer nur konkret für das kommende Jahr finanziert – müssen Sie um die Finanzierung langfristiger Projekte bangen?

Die Finanzierung der Infrastrukturprojekte ist garantiert. Größere Projekte werden grundsätzlich dem Parlament vorgelegt. Liegt die Investitionssumme zwischen 10 und 60 Mio. EUR reicht es aus, das Projekt dem Parlament vorzustellen. Ist das Parlament damit einverstanden, kann die Detailplanung gemacht und darauf aufbauend der Kostenvoranschlag erstellt werden. Bei Beträgen über 60 Mio. EUR wird ein separates Gesetz für dieses spezielle Projekt verabschiedet. Auf diese Art und Weise werden zwar die Gelder nur jährlich freigegeben, durch die Fixierung des Projektes mit einem eigenen Gesetz ist jedoch die Finanzierung langfristig gesichert. Jede größere Investitionsentscheidung in die Infrastruktur ist also eine politische Entscheidung. Doch durch das Festschreiben in einem Gesetz ist sichergestellt, dass das Projekt umgesetzt werden kann. Das gibt uns eine große Sicherheit.

Das Parlament hat also einen großen Einfluss auf die Entscheidungen. Wie sieht es mit den Bürgern aus? Welche Möglichkeiten der Einflussnahme bei Großprojekten haben sie?

Schon lange bevor sich das Parlament mit einem größeren Projekt befasst, finden Gespräche auf kommunaler Ebene statt und auch mit den jeweils zuständigen Behörden. So können wir erste Meinungen oder Einwände schon in diesem Stadium berücksichtigen, damit das Projekt überhaupt eine Chance hat, realisiert zu werden. Bei den Projekten, die in den landesplanerischen Vorgaben schon skizziert sind, ist es von Vorteil, dass dies schon öffentlich bekannte Planungen sind. So weiß man zum Beispiel, ob und welche Geländeankäufe für ein Projekt notwendig wären. Der Staat hat hier ein Vorkaufsrecht. Ansonsten führen wir natürlich Gespräche mit den Liegenschaftsbesitzern. Kurz gesagt: Wir klären im Vorfeld alles ab, was wir abklären können, damit das Projekt nicht revidiert zu werden braucht.

Infrastrukturprojekte sind lang laufende Projekte. Wie gehen Sie im luxemburgischen System mit Preissteigerungen während der Projektdauer um?

Als Zuständige für die Infrastruktur muss CFL zweimal im Jahr einen Bericht vorlegen, in dem detailliert aufgeführt ist, wie wir die Ausgaben tätigen. Hierzu werden wir dann auch regelmäßig in den zuständigen Parlamentsausschuss geladen, um die Entwicklung zusammen mit dem zuständigen Ministerium darzulegen. Durch diesen regelmäßigen Austausch sind alle Seiten immer über das Fortschreiten eines Projektes informiert, können Fragen stellen oder einzelne Punkte diskutieren. Hierdurch erreichen wir eine große Stabilität. Außerdem wird bei den durch ein Spezialgesetz genehmigten Projekten der noch nicht verwendete Anteil des Projektbetrages alle sechs Monate auf Basis eines Bauindexes aktualisiert. Dieser wurde vom luxemburgischen Statistischen Amt eingeführt und erfasst die Entwicklung von Baukosten. Dadurch findet eine automatische Anpassung des noch ausstehenden Betrages an die Kostenentwicklung statt.

Es wird also über einen Bauindex ein automatischer Kosten-Floater in die Finanzierung eingebaut. Wie gehen Sie mit anderen Unvorhersehbarkeiten um?

In der Regel räumen wir alle denkbaren Probleme schon vor der Beschlussfassung des Parlamentes aus. Von daher ist der Fall einer unvorhersehbaren Preissteigerung wegen inhaltlichen Änderungen bei den größeren Projekten selten.

Woher kommt das Geld für die Infrastruktur?

Die Finanzierung erfolgt aus einem 1995 ins Leben gerufenen Fonds. Dieser wird beispielsweise gespeist aus Trassenerlösen oder aus Miet- und Verkaufseinnahmen von Eisenbahnliegenschaften, aus europäischen Subventionen und letztendlich aus dem Staatshaushalt. Dabei werden nicht nur die Investitionen, sondern auch die laufenden Kosten für das Betreiben der Infrastruktur aus diesem Fonds finanziert.

Wäre Organisation und Finanzierung der Infrastruktur wie in Luxemburg auch auf das weit größere Deutschland übertragbar?

Luxemburg ist nicht nur geographisch klein, sondern auch in Bezug auf die Zahl der Institutionen. Es gibt keine Regionalisierung in irgendeiner Form. Das führt dazu, dass wir kurze Verwaltungswege haben und wenig Gesprächspartner, die eventuell ihre Meinung ändern könnten.  Auch arbeiten wir oft über Jahre hinweg mit den gleichen Personen zusammen. All dies trägt stark zur Effizienz unseres Systems bei. Deshalb glaube ich nicht, dass unser System so einfach auf andere und größere Länder übertragen werden kann. Auch kommt es weniger zu Interessenkonflikten, die sich beispielsweise in einem geographisch größeren Land dadurch ergeben können, dass eine Strecke, die weit auseinander liegende Punkte verbindet, durch Regionen führt, die nicht von der Streckenführung profitieren, aber dennoch die Auswirkungen der Strecke spüren. Unser Schienennetz ist kompakt und ein Ganzes und wird auch von den Bürgern als ein Ganzes verstanden, so dass niemand die Notwendigkeit von Infrastrukturmaßnahmen für das Netz grundsätzlich in Frage stellt.
Interessant wäre jedoch auf jeden Fall das Fondskonzept, wie es ja beispielsweise auch in der Schweiz umgesetzt wird. Bei Finanzierungssicherheit müssen Projekte weder verschoben noch unterbrochen werden. Finanzierungssicherheit bringt auch eine höhere Kohärenz der Projekte: In einem Schienennetz gibt es immer Projekte, die zwar nur punktuell ausgeführt werden, deren Umsetzung sich jedoch auf den ganzen Zuglauf auswirkt. Wenn von diesen Projekten eines wegfällt, sind die anderen Projekte an der Strecke nur noch begrenzt sinnvoll – das Ganze wird bruchstückhaft und ineffizient.

Eines der großen Projekte war die Umstellung des gesamten Netzes auf ETCS. Wie waren hier die Zeitabläufe?

Der Verwaltungsrat der CFL hat 1999 die Entscheidung zur Einführung von ETCS getroffen. Unser bestehendes Netz war im Bereich der Zugsicherung wenig leistungsfähig und ETCS mit seiner modularen Struktur bot die Gelegenheit, schnell aufzurüsten. Wir haben 2003 begonnen und nach und nach im ganzen Netz ETCS 1 Full Supervision eingeführt. 2014 hatten wird alles aufgebaut. Dann hat es bis 2017 gedauert, bis die Aufsichtsbehörde ihre netzweite Zulassung erteilt hat, inklusive der Grenzübergänge.  Nach der Zulassung 2017 gab es noch eine Übergangszeit von zwei Jahren, bis alle Fahrzeuge mit ETCS Level 1 ausgestattet sein mussten, also das alte System nicht mehr verwenden durften. Als dann Ende 2020 alle Fahrzeuge mit ETCS ausgestattet waren, konnten wir die Führerstandsignalisierung einführen.

Führerstandsignalisierung bei Level 1?

Meist verbindet man Führerstandsignalisierung mit dem Level 2, doch sie ist auch bei Level 1 möglich. Die Führerstandsignalisierung ermöglichte uns, eine neue Stellwerkstechnik zu entwickeln, die ETCS integriert. Sie bereitet die Telegramme, die die Eurobalisen übermitteln, zentral auf. Streckenseitig brauchen wir deshalb nur noch ganz reduziert Signale, wie dies ansonsten erst bei Level 2 üblich ist. Im Prinzip haben wir ETCS Level 2, doch ohne GSM-R.
Der Vorteil dieser Lösung ist, dass man ETCS schneller einführen kann. Die neue Stellwerkstechnik haben wir auf der längsten Strecke, die wir in Luxemburg haben, circa 70 km lang, zur Hälfte schon in Betrieb genommen; die zweite Hälfte wird im September dieses Jahres in Betrieb genommen.

Im Rückblick – gibt es etwas, was Sie aus heutiger Sicht bei der ETCS-Einführung anders machen würden?

Es wäre wünschenswert gewesen, wenn wir wirklich die Migration auf die Fahrzeuge parallel zur Streckeneinführung von ETCS in der Infrastruktur abwickeln hätten können. Wenn die Migration nicht parallel stattfindet, muss man das alte Leit- und Sicherungssystem zu lange aufrecht halten und hat für den Migrationszeitraum auch nicht den Gewinn der höheren Sicherheit und Interoperabilität. ETCS erlaubt stellenweise, die Durchsatzkapazität zu verbessern. Dies ist jedoch nur möglich, wenn alle Fahrzeuge ETCS nutzen. Durch den Wegfall von Signalen fällt auch deren Verkabelung weg, die sehr kostenintensiv und störanfällig ist. Auch den Betrieb kann man schneller anpassen, beispielsweise Langsamfahrstellen im Stellwerk eingeben, die dann sofort in den Telegrammen abgebildet werden. Das alles sind große Vorteile, die ETCS mit sich bringt.
Es hat beinahe eine Generation gedauert, bis ETCS in Luxemburg eingeführt war, doch jetzt ist es da. Man muss irgendwann einmal beginnen: Denn wenn man nicht beginnt, wird man es nie haben.

Wie wurde die Umrüstung der Fahrzeuge finanziert?

Die Umrüstung war Aufgabe der Eisenbahnverkehrsunternehmen. Doch die EU hat zur Zeit der streckenseitigen Pilotanwendungen Förderung zugelassen. Für den Rest mussten die EVU aufkommen.

Als ein Hindernis wird oft genannt, dass es zu viele unterschiedliche ETCS Versionen gebe.

Wir haben diesbezüglich keine Schwierigkeiten gehabt. ETCS erlaubt nationale Parameter, denn man muss ja jeweils festlegen können, welche Geschwindigkeit in einem Land beispielsweise beim Rangieren zulässig ist. Ohne eine solche Festlegung kann ETCS die Geschwindigkeit nicht überwachen. Das sind also keine eigenen Varianten, sondern vielmehr die Berücksichtigung von nationalen Werten in einem interoperablen System.

Wie beurteilen Sie die Kosten der ETCS-Einführung?

Im Vergleich mit Bauprojekten war für uns die ETCS-Einführung kein exorbitantes finanzielles Thema, besonders seitdem wir die neue integrierte Stellwerkstechnik haben.

Sie erreichen beneidenswerte Pünktlichkeitswerte um 92 %.

Dieser Wert bezieht sich auf den Personenverkehr, der in Luxemburg meist Personennahverkehr ist. Wir haben keine Transitverkehre, alle internationalen Züge starten oder enden in Luxemburg Stadt. Und auch Züge aus Deutschland, Frankreich oder Belgien fahren selten mehr als 200 km auf den ausländischen Strecken und können deshalb dort gar nicht so viele Missgeschicke erleiden. Wenn es systematisch Verspätung aus anderen Netzen gibt, suchen wir gemeinsam mit unseren Kollegen in diesen Infrastrukturunternehmen nach Lösungen.

Und im Güterverkehr?

Im Güterverkehr sieht es etwas anders aus: Luxemburg ist Teil des Frachtkorridors Nordsee-Mittelmeer. Doch der Güterverkehr macht nur knapp 7 % der gefahrenen Kilometer aus. 

Wie schwierig ist es für Sie, Fachkräfte zu finden?

In Luxemburg gibt es drei Amtssprachen: Luxemburgisch, Deutsch und Französisch. Das heißt nicht zwangsläufig, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter alle Sprachen beherrschen müssen. Unser Personal in den Stellwerken muss jedoch zweisprachig sein, denn in unseren Netzbedingungen garantieren wir den Eisenbahnverkehrsunternehmen, dass sowohl Deutsch als auch Französisch gesprochen wird. Das heißt, der Lokführer eines EVU kann einsprachig sein, weil wir als Infrastrukturbetreiber zweisprachig sind. Das finden wir angemessen.
In anderen technischen Bereichen hängen die Anforderungen an die Sprachkenntnisse davon ab, welches die jeweils vorherrschende Sprache ist: im Oberbau ist es beispielsweise Deutsch, bei der Fahrleitung Französisch. Natürlich ist es nicht immer einfach, ausreichend Personal zu finden, zumal es auch unser Grundsatz ist, dass jede Person eine „Ersatzperson“ haben muss, mit dem gleichen Wissensstand. Wir beginnen schon sehr früh mit Einstellungsprozessen für Planstellen, bis zu zwei Jahre vor dem voraussichtlichen Freiwerden, und geben den Bewerberinnen und Bewerbern sehr zeitnah eine Rückmeldung. Gleichzeitig prüfen wir auch, ob wir Planstellen einsparen können. In unseren modernen Stellwerken kann beispielsweise eine Person mehrere andere ersetzen, wenn diese im Turnus ihre Pause machen; in den klassischen Stellwerken war das Verhältnis 1 zu 1. An anderer Stelle stocken wir jedoch auf, beispielsweise beim Bahnsteigpersonal.

Eine private Frage: Wie entspannen Sie sich?

Da ist natürlich meine Familie, meine Frau und unsere beiden erwachsenen Kinder, die in der Ausbildung sind und noch zu Hause wohnen. Ich lege in unserem großen Garten gerne selbst Hand an und bin viel in der Natur. Außerdem interessiere ich mich für Kultur und Geschichte Luxemburgs und pflege meine Kenntnisse der Bahngeschichte. Bei der Arbeit selbst ist es der konstruktive Austausch mit meinen Mitarbeitern, der mich entspannt.

 

Das Interview aus der Eisenbahntechnischen Rundschau führte Dagmar Rees

 

 

 

Artikel Redaktion Eurailpress
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