Interviews

Dr. Sigrid Nikutta

Wir müssen uns für die Menschen und nicht für die Autos entscheiden

Mit gut 1 Mrd. Fahrgästen pro Jahr befördern die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) rund 10 % aller ÖPNV-Nutzerinnen und Nutzer in Deutschland. BVG-Chefin Dr. Sigrid Evelyn Nikutta sieht den Öffentlichen Verkehr als Rückgrat aller Mobilität. Sie will das Angebot in Berlin bei gleichen Kosten weiter ausbauen.

Wenn Sie sich den ÖPNV in Berlin in 20 Jahren vorstellen, wie werden sich die Menschen in Berlin bewegen – Ihre Vision?

20 Jahre ist für uns beinahe schon heute, denn wir planen sehr lange vor. Meine Vision: Der Öffentliche Nahverkehr wird das Rückgrat der Mobilität sein. Wir werden ein sehr engmaschiges Angebot bei Bus, Straßenbahn, U- und S-Bahn haben, noch viel enger getaktet als heute. Wenn Sie sich in Berlin bewegen wollen, brauchen Sie nur bis zur nächsten Haltestelle zu gehen, das nächste Fahrzeug kommt sofort. Sie brauchen sich um nichts zu kümmern und wissen, Sie kommen überall hin.

Man braucht nicht einmal mehr einen Fahrplan.

Genau. Die Fahrzeuge werden so eng getaktet sein, dass Sie nicht mehr warten oder Fahrten vorausplanen müssen. Als BVG werden wir die ganze Mobilitätskette bedienen, von Tür zu Tür. Wir werden Sie direkt zu Hause abholen, Fahrer-bedient oder autonom, und Sie entweder direkt zu Ihrem Ziel bringen oder zu einer Haltestelle, an der Sie dann auf andere, vorreservierte Verkehrsmittel umsteigen, seien dies Fahrräder, Roller, Autos, Busse, Straßenbahnen, S-Bahnen oder eine noch nicht definierte Einheit, die wir uns heute noch nicht vorstellen können. Natürlich können Sie alles über die BVG-App hinzubuchen, umbuchen, stornieren und auch bezahlen. Wir betreiben das Rückgrat und auch die additiven Angebote. Die BVG organisiert die Mobilität in der ganzen Stadt, zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Gefährdet autonomes Fahren von Autos nicht die Zukunft des ÖPNV?

Ich habe keine Angst vor dem autonomen Fahren, im Gegenteil: Eine Stadt wie Berlin mit bald 4 Mio. Einwohnern kann nur existieren, wenn wir ein ganz engmaschiges, von allen genutztes System der Mobilität haben. Denn die Menschen wollen in einer attraktiven Stadt wohnen, mit sauberer Luft und weiten Grünflächen. Dieser Wunsch kann nur durch den ÖPNV erfüllt werden.

In Sachen vernetzte Mobilität gibt es nicht nur die BVG, sondern auch schon andere Anbieter wie Ally oder Uber, wenn auch augenblicklich eingeschränkt. 

Ich bin davon überzeugt, dass dies alles schöne Add-on Angebote sind. Wir wollen mit solchen Lösungen den Besitz des eigenen Autos überflüssig machen. Doch ohne das leistungsfähige Rückgrat des ÖPNV fahren wir hier in Berlin „Horizontal-Paternoster“, wie ein Kollege einmal sagte, Stoßstange an Stoßstange, ohne Bewegungsfreiheit. Unser Ziel ist nicht, eine Stadt zu haben, in der alles voller Autos beziehungsweise kleiner mobiler Einheiten ist und die Bewohner nicht mehr über die Straße gehen können.

Die Automobilhersteller haben eine andere Vision: Danach fahren emissionsfreie, leise Elektrofahrzeuge ihre Besitzer in der Stadt herum – werden sie gerade nicht gebraucht, suchen sie sich selbst einen Parkplatz oder fahren bis zum nächsten Einsatz nach Hause. Was machen Sie heute schon konkret, damit morgen Ihre Vision vom Verkehr der Zukunft Realität wird?

Wir sind in der Diskussion mit den Automobilherstellern, weil wir glauben, dass Autos für die „letzte Meile“ ein Angebot sein könnten, wenn der Kunde nicht zu Fuß gehen will, auf ein Fahrrad steigt oder den Bus nimmt. Wir teilen nicht die Vision der Automobilhersteller, die sagen, dass alle Wege in der Stadt mit dem autonomen Auto zurückgelegt werden. Denn wir werden in den Städten eine Diskussion um die Verteilung der öffentlichen Flächen haben. Als Stadt sind wir besser beraten, statt Parkplätzen und breiteren Straßen Spielplätze und Grünanlagen zu bauen. Die einzige Lösung für die Platzfrage in Städten ist, möglichst wenige Autos in der Stadt zu haben, also Öffentlicher Nahverkehr. Ich weiß um die Bedeutung der Automobilproduktion für Deutschland als Indus­triestandort. Doch in Großstädten wie Berlin gibt es keine Kompromissmöglichkeit: Hier muss die Diskussion eindeutig zu Gunsten der Menschen und nicht zu Gunsten der Autos entschieden werden. 

Autonomes Fahren ist nicht nur ein Thema im Individualverkehr. Vollautomatisiertes Fahren auf der Schiene wird schon verwirklicht und wurde für die U5 auch schon einmal angedacht. Welche Rolle wird vollautomatisiertes Fahren auf der Schiene in Berlin spielen? 

Als Branche sind wir hier schon wesentlich weiter als die Automobilindustrie beim autonomen Fahren auf der Straße. Es gibt Städte wie Nürnberg oder Paris, wo das vollautomatisierte Fahren erfolgreich funktioniert. In Berlin schließen wir vollautomatisiertes Fahren nicht aus. Doch die Umrüstung zum jetzigen Zeitpunkt würde einen so hohen Investitionsaufwand nach sich ziehen, dass die Einspareffekte niemals den Aufwand rechtfertigen würden. Für Berlin kommt das autonome Fahren von Bahnen dann in die Diskussion, wenn wir über neue Strecken reden oder wenn wir irgendwann in der Stadt eine so enge Taktung der U-Bahnen brauchen werden, dass sie mit menschlichen Reaktionszeiten nicht mehr machbar ist. Müssen wir im 90-Sekunden-Takt fahren, brauchen wir die Automatisierung. Wenn die Stadt so schnell weiter wächst wie bisher, werden wir in 10 bis 15 Jahren erneut und sehr ernsthaft über autonomes Fahren unserer Bahnen nachdenken müssen. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es noch keinen Bedarf.

Sie investieren in den kommenden Jahren in rund 1000 neue U-Bahnen und 120 neue Straßenbahnen. Ist die Möglichkeit des vollautomatisierten Fahrens bei der jetzt geplanten Beschaffung schon mitgedacht? 

Ich bin sehr froh, dass wir in Berlin den Schulterschluss mit der Politik geschafft haben. Allen ist klar, dass der Fuhrparkt der BVG erstens erneuert und zweitens vergrößert werden muss. Wir werden bis 2035 rund 3,1 Mrd. EUR für neue Fahrzeuge ausgeben. Bei der Ausschreibung, die wir gerade vorbereiten, denken wir durchaus mit, dass diese Fahrzeuge auch in der Lage sein sollen, autonom zu fahren, wenn wir uns zum Zeitpunkt X dafür entscheiden.

Die Fahrzeuge müssen vorbereitet sein und außerdem brauchen Sie die Absperrungen in den Stationen, das macht die Umstellung teuer.

Wir haben 173 U-Bahnhöfe in Berlin, mehr als die Hälfte davon steht unter Denkmalschutz. Dazu die Umrüstung der Leit- und Sicherungstechnik – wir würden noch einmal Milliarden an zusätzlichen Investitionsmitteln brauchen.

Sie haben die Milliarden für die Fahrzeuge mit der Auflage bekommen, die BVG-Altschulden abzubauen und einen Kostendeckungsgrad von mindestens 55 % zu halten. Was müssen Sie tun?

Diese beiden Themen sind nicht ganz so originär miteinander verbunden. Die 3,1 Mrd. EUR sind unser Investitionsrahmen allein für Schienenfahrzeuge. Wir haben deshalb neu die BVG-Fahrzeug-Finanzierungsgesellschaft gegründet, über die die Beschaffung und die Aussteuerung der Finanzierung laufen wird. Die Finanzierung wird auf diese Weise vom operativen Geschäft der BVG getrennt, damit klar ist, was Altschulden und was Neuinvestitionen sind. Unser Ziel ist, die Altschulden abzubauen, doch aus eigener Kraft. Die Altschulden entstanden, weil die BVG mehr Leistungen erbracht hat als Einnahmen hereingekommen sind. Das war kein Ergebnis schlechten Management, sondern im System so angelegt. Wir werden über ein größeres Angebot und damit mehr Kundinnen und Kunden mehr Einnahmen generieren, bei gleichbleibenden Kosten. Wir planen keine harten Einschnitte, um Kosten zu sparen, sondern Wachstum bei gleichbleibenden Kosten.

Wenn Sie ein steigendes Angebot bei gleichbleibenden Kosten erreichen wollen, müssen Sie die Produktivität steigern. Wo setzen Sie an?

Üblicherweise denkt man bei Produktivitätssteigerungen an das Personal. Hier möchte ich jedoch ganz klar sagen: Unsere Fahrerinnen und Fahrer leisten schon jetzt Unglaubliches. Wir sind stolz darauf, dass wir so viele Mitarbeiter in den U-Bahnhöfen vor Ort haben. So können wir bei Störungen schnell eingreifen. 

Unser Weg besteht darin, das System effizienter zu machen. Hauptfaktoren sind ein gut getakteter Fahrplan und effiziente Umlaufplanungen mit attraktiven Diensten für unsere Fahrerinnen und Fahrer. Weiteres Potential sehen wir bei den Werkstätten und der Instandhaltung der Infrastruktur. Hier hilft uns die Digitalisierung enorm. So erproben wir gerade ein System der Schadensmeldung, bei dem unser Personal mit mobilen Endgeräten Schäden fotografieren und direkt weiterleiten kann. Idealerweise ist der defekte Gegenstand dabei mit einem QR-Code ausgerüstet, die Schadensmeldung löst direkt im Beschaffungssystem den Bestellvorgang aus und die Repa­ratur wird automatisch in die Tourenplanung der Serviceteams einbezogen. Mit Maßnahmen wie diesen können wir erheblich Kosten sparen. 

Sie sprachen vom Schulterschluss mit der Politik bei der Fahrzeugbeschaffung. Gibt es diesen auch im Betrieb? Denn Produktivität hängt immer auch von der Umlaufplanung ab, diese von der Pünktlichkeit und diese wiederum von Faktoren wie Busvorrangschaltungen an Ampeln oder die Einrichtung von Busspuren. Manchmal scheint es einfacher zu sein, von der Politik Milliardensummen zu bekommen, als Lösungen in diesen Fragen. 

Sie haben Recht, das sind dicke Bretter. Wir haben uns zusammen mit der Politik zum Bohren entschlossen. Wir gehen augenblicklich diese Fragen Schritt für Schritt auf unseren 10 neuralgischsten Linien durch: Wo muss eine Ampelschaltung verbessert werden? Wo muss eine Abbiegespur verändert werden? Wo versperren am häufigsten Autos die Spur? Dies ist sehr aufwändig, da ja auch die Ampeln wiederum Teil eines sehr komplexen Systems der Verkehrssteuerung sind. Das alles, damit der Bus 5 Minuten schneller wird. Und am Ende kan man noch nicht einmal Bänder durchschneiden. Wir haben das Glück, dass wir in der Politik ausgewiesene Verkehrsexperten haben, mit denen man diese Themen gemeinsam diskutieren und wirklich etwas verändern kann. Wir haben außerdem das Glück, dass Busse in Berlin Teil des Lebensgefühls sind: Jeder fährt Bus, quer durch alle Schichten. Dadurch sind die Busse tatsächlich ein Politikum.

10 % des ÖPNV in Deutschland werden von der BVG abgewickelt. 

Das ist ein Pfund, mit dem wir wuchern können.

Spielt für Sie bei der Produktivität auch Predictive Maintenance eine Rolle?

Unsere U- und Straßenbahnen sind mit einem Durchschnittsalter von 30 Jahren schon längst über das Pubertätsalter hinaus. Da gibt es keine Andockpunkte für Predictive Maintenance. Wir sind nichtsdestotrotz mit unseren alten Fahrzeugen nicht unglücklich, denn die gute alte Mechanik ist in höchstem Maße solide und nicht fehleranfällig. Wir haben deshalb gerade die Baureihen F74 und F76 ertüchtigt, damit sie weitere 20 Jahre fahren können. Die neuen Fahrzeuge müssen erst einmal beweisen, dass sie eine vergleichbare Qualität haben werden. 

Bei der Schiene stehen wir mit dem vorher angesprochenen Generationswechsel am Beginn von Predictive Maintenance. Bei den Bussen haben wir eine enge Kooperation mit den Herstellern. Wir befinden uns gemeinsam in einem Versuchsstadium, um festzustellen, welche der Daten uns etwas nutzen und was wir aus ihnen lesen können. Allerdings haben wir bei unseren Bussen ein so engmaschiges Netz an Instandhaltung und Wartung, dass der Mehrwert von Predictive Maintenance nicht groß ist. Für uns liegt der größte Mehrwert bei den Assistenzsystemen, das heißt der Entlastung des Fahrers und des Erkennens von Gefahren in automatisierter Form. Hier forschen wir am stärksten.

Sie installieren Kameras und Sensoren?

Kameras und Sensoren spielen eine große Rolle. Das wichtigste ist jedoch die Intelligenz der Software. Sie muss erkennen können, was die Person, die am Gleis oder am Straßenrand steht, als nächstes machen wird. Denn zu wissen, dass in 5 m Umkreis eine Person steht, hilft allein noch nichts. In Berlin steht immer jemand in 5 m Umkreis. Die Software muss vielmehr erkennen, ob die Person stehenbleiben oder im nächsten Augenblick in Richtung der Schiene oder auf die Straße rennen wird. Hier geht es um künstliche Intelligenz. 

Ist für Sie Energieeinsparung durch Fahrerassistenz auch ein wichtiges Thema?

Auf jeden Fall. Zum einen beim Fahren, zum anderen aber auch beim Einsatz der Nebenaggregate, die schließlich 40 % der Energie verbrauchen. Diese intelligent zu steuern, abhängig von Umgebungstemperatur und Zahl der Fahrgäste, ist ein großer Hebel, von dem wir uns viel versprechen. 

Was machen Sie in Bezug auf Digitalisierung und Fahrgäste?

Wir arbeiten an Veränderungen beim Zusammenspiel von Fahrgästen und Betrieb und natürlich an unserer App, die schon 2,5 Mio. Mal heruntergeladen wurde. Unsere Internetseite ist die meistbesuchte Internetseite in Berlin. Über die App wollen wir alle weiteren Steuerungsmechanismen aufbauen. Sie können sich per App heute schon den Weg anzeigen lassen. Zusätzlich ist es natürlich sinnvoll, über I-Beacons auch tatsächlich geleitet zu werden, zum Beispiel zur richtigen Rolltreppe oder dem nächstgelegenen Ausgang. Dies testen wir schon an einigen Bahnhöfen. Wenn wir an Senioren oder mobilitätseingeschränkte Personen denken, ist es auch sehr sinnvoll, sich an großen Stationen den kürzesten Weg anzeigen lassen zu können. Denn wenn Sie am Alex den falschen Weg nehmen, können Sie schnell 2 km statt 300 m unterwegs sein. Das sind die Wege, die wir als nächstes beschreiten wollen, bis hin zu Smartphone-Ansagen der an der Haltestelle ankommenden Busse und Straßenbahnen für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen. Auch sollen zukünftig unsere Fahrgäste individualisiert informiert werden, wenn es Abweichungen gibt, nicht nur über die stationären Fahrgastinformationen. Fahrplan-Abweichungen sind bei uns als Bundeshauptstadt ein Riesenthema, denn es gibt sehr häufig großräumige Sperrungen aufgrund von Events oder Staatsereignissen. Unregelmäßigkeit ist bei uns die Regel. Wir arbeiten daran, Änderungen den Fahrgästen bestmöglich zu kommunizieren. Grundsätzlich stellt sich uns, wie der gesamten Branche, die Frage, wieviel wir heute überhaupt noch stationär anbieten müssen. Sollen wir in Fahrkartenautomaten und elektronische Anzeigetafeln investieren? Wollen die Menschen das noch, wenn sie schon jetzt ihr Handy durch die Stadt routet?

Aufgrund der technischen Entwicklungen sieht in zwei Jahren schon alles anders aus. Und ein neuer Fahrkartenautomat hält 15 Jahre.

Genau. Wir sind an dem Punkt, dass wir unsere alten Automaten, die sehr gut und verlässlich und gelernte Technik für alle Berlinerinnen und Berliner sind, erst einmal ertüchtigen. Wir warten bewusst ab, wie sich die Software beim Ticketing entwickeln wird. Unsere Vision ist, ein einziges System für alles zu haben, während der Fahrgast sein Ticket über die unterschiedlichsten Kanäle kaufen kann. Dabei werden wir bewusst die Mischung beibehalten und nicht allein auf elektronische Lösungen setzen. Nicht alles wird digital werden. Wir halten unvermindert am personenbedienten Verkauf fest. Viele Kundinnen und Kunden wollen weiter den Kontakt mit unserem Personal am Schalter – das wird unvermindert nachgefragt. 

Eine private Frage – wie entspannen Sie sich?

Sobald ich nach Hause komme, ist das Leben ein anderes. Es gibt ganz andere Herausforderungen, es sei denn, Handy oder Mails tickern. In meiner Freizeit lese ich extrem viel, verbringe gerne Zeit mit meinen Kindern, meiner Familie, meinen Freunden und schaue meinem Mann beim Kochen zu. 

Das Gespräch führten Manuel Bosch und Dagmar Rees.

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Artikel von Interview aus der ETR, Ausgabe 4/17
Artikel von Interview aus der ETR, Ausgabe 4/17