Dr. Jürgen Wilder: Wachstum braucht Kapazität
Dr. Jürgen Wilder, Vorstand Systeme für Schienenfahrzeuge der Knorr-Bremse AG, ist überzeugt, dass der Schienenverkehr weiter wachsen wird. Doch das Wachstum erfordert mehr Kapazität im Netz. Innovationen bei Bremsen und anderen Fahrzeugkomponenten sollen dazu beitragen.
Knorr-Bremse hat laut Bilanz des dritten Quartals 2020 trotz Corona-Krise eine operative Ebit-Marge von 18,4 % für neun Monate erzielt. Woran liegt das?
Wir haben schnell drastische Kostensenkungsmaßnahmen umgesetzt, auch bei den Fixkosten. Das macht sich natürlich im Ebit bemerkbar. Positiv wirkt sich auch der Verkauf des Unternehmens Powertech aus, das wir im ersten Halbjahr 2019 noch in der Bilanz hatten. Doch den weitaus größten Effekt hatte, dass der Sektor Bahn seit Beginn der Corona-Krise, einer Pandemie, wie wir sie bisher noch nicht erlebt haben, weltweit als systemrelevante Infrastruktur klassifiziert wurde. Züge fahren zuverlässig und halten die Lebenslinien in den Ländern aufrecht – auch wenn sie zu manchen Zeiten beinahe leer sind. Doch auch leere Züge müssen gebremst werden. Da die Bahnbetreiber besonders zu Beginn der Krise die Sorge hatten, dass die Supply Chain für Ersatzteile nicht stabil genug sein könnte, haben sie sich mit Ersatzteilen eindeckt. Dies hat unseren Geschäftsbereich Service insbesondere im zweiten Quartal 2020 gestärkt. Da die Lager jetzt voller sind, könnte sich dies im vierten Quartal etwas abschwächen. Natürlich hatten wir insgesamt Umsatzeinbußen, doch im Vergleich mit anderen Branchen sind wir gut und profitabel durch die vergangenen Monate und den ersten Lockdown gekommen. Es hat sich gezeigt: Der Bahnsektor ist krisenfest.
Arbeitet Knorr-Bremse an Entwicklungen, wie Züge „Pandemie-resistent“ gemacht werden können?
Natürlich. Luftströme, Filter- und Reinigungssysteme spielen hier eine ganz zentrale Rolle. Viren haften an Trägermedien, die man in Klimaanlagen gut herausfiltern kann. Außerdem kann man mit UV-Licht arbeiten, um Viren abzutöten. Filter und UV-Licht können in bestehenden Zügen nachgerüstet werden. In neuen Fahrzeugen kann man zusätzlich den Luftstrom so ausrichten, dass sich Viren nicht im ganzen Wagen verteilen, sondern schnell herausgefiltert werden. Doch bisher gab es keine Spreader-Events in Zügen. Studien zeigen, dass Zugfahren sicherer ist als Fliegen, besonders mit der neuen Technik.
Der Bahnsektor ist systemrelevant. Besteht angesichts der immensen Aufwendungen, die Regierungen weltweit aufbringen müssen, um die wirtschaftlichen Schäden durch die Corona-Pandemie abzufedern, dennoch die Gefahr, dass Regierungen, beispielsweise in Indien, schon geplante Investitionen in Schienenfahrzeuge aus Mangel an Geld zurückstellen?
In Indien hat es tatsächlich schon Budgetkürzungen gegeben, gleichzeitig wurden im ersten Halbjahr jedoch verstärkt Ersatzteile bestellt, um den Service aufrecht zu erhalten. Mittel- und langfristig bin ich optimistisch, dass es zu keinen umfassenden Einbrüchen bei der Nachfrage kommt. Wenn die Corona-Krise bewältigt ist, wird die Nachfrage nach klimaschonender Mobilität wieder in den Vordergrund rücken und die Diskussion um CO2-Reduzierung wieder aufflammen. Gerade die Verkehrsverlagerung von der Straße oder aus der Luft auf die Schiene wird dann erneut im Fokus stehen. Ohne die Schiene ist klimaneutrale Mobilität nicht zu erreichen. Die große Frage wird sein, wie wir als Sektor die benötigten Kapazitäten für die Verlagerung schaffen können. Grundsätzlich werden dafür gerade in Europa mit dem Green Deal oder in Deutschland mit dem Schienenpakt Finanzierungsquellen bereitstehen.
Wo sehen Sie Probleme?
Es ist gut, dass wir uns diese ambitionierten Ziele setzen: Verdoppelung des Personenverkehrs bis 2030 und einen Modal Split zugunsten der Schiene beim Güterverkehr von heute 18 % auf 25 %. Wenn wir das Wachstum des Güterverkehrsaufkommens insgesamt berücksichtigen, bedeutet dies ebenfalls fast eine Verdoppelung des Schienengüterverkehrs bis 2030. Allerdings sind im Vergleich zur Straße die Rahmenbedingungen für die Schiene viel schwieriger. Außer den Trassengebühren gibt es Technologiewechsel an der Grenze, die Lokomotivführer brauchen Sprachkenntnisse auf dem Mindestniveau der Landessprache. Das gibt es auf der Straße nicht.
Dem Technologiewechsel an der „Grenze“ soll unter anderem mit ETCS abgeholfen werden.
Seit Jahren wird versucht, ETCS-Korridore mit einheitlicher Technik zu schaffen. Das ist sehr langwierig und kostet sehr viel Geld. Natürlich kann ETCS auch die Verkehrsdichte auf der Schiene erhöhen. Doch ETCS ist nicht die einzige Technik, mit der die Kapazität erhöht werden kann – es gibt fahrzeuggebundene Innovationen, die schneller umzusetzen sind.
An welchen Innovationen arbeitet Knorr-Bremse, um die Kapazität im Netz zu erhöhen?
In den nächsten Jahren wollen wir unser Reproducible Braking Distance Management System auf den Markt bringen, durch das die Einhaltung eines definierten Bremsweges garantiert wird, unter allen Wetterbedingungen. Hier arbeiten wir an der Schnittstelle zwischen Schiene und Rad – analog zu einem ABS-System in Straßenfahrzeugen, das heißt die Bremse arbeitet zielgenauer, wodurch sich die Bremswege reduzieren.
Das heißt, man muss nicht mehr so viel Sicherheitsabstand vorhalten?
Ja. Bei heutiger Bremstechnik muss der jeweils längste der möglichen Bremswege als Sicherheitsabstand und damit bei der Festlegung der Blöcke berücksichtigt werden. Hat die S-Bahn München beispielsweise bei trockenem Wetter einen Bremsweg von 600 m, so beträgt der Bremsweg bei Regen und Blättern auf den Gleisen bis zu 2000 m. Diese 2000 m bestimmen dann den Blockabstand. Wenn es uns beim Reproducible Braking Distance Management System durch intelligente Vernetzung gelingt, einen Bremsweg von 800 m zu garantieren, könnten theoretisch bis zu doppelt so viele S-Bahnen im Netz fahren, ohne dass in Stahl und Beton investiert werden muss.
Allein durch eine andere Technologie beim Bremsen könnte sich die Kapazität im Netz verdoppeln?
In der Praxis wird sich eine Verdoppelung in der Regel nicht realisieren lassen. Doch kann man bei Flaschenhälsen im Netz, ähnlich wie bei ETCS, die Kapazität durch die neue Bremstechnologie um 20 bis 25 % erhöhen. Eine Kombination der beiden Technologien würde die Kapazität des Netzes deutlich erhöhen – und das ist immer günstiger, als in den Neubau von Schienenstrecken zu investieren, ganz abgesehen von langwierigen Genehmigungsverfahren und Einsprüchen aus der Bevölkerung gegen den Neubau von Schieneninfrastruktur. Neue Bremsen in den Fahrzeugen würden außerdem nicht nur die Kapazität des Netzes erhöhen, sondern gleichzeitig zur Lärmreduktion auf der Schiene beitragen und somit zu einer größeren Akzeptanz des Wachstums auf der Schiene in der Bevölkerung führen.
Es wurden schon sehr große Beschaffungsaufträge für Schienenfahrzeuge vergeben. Ist die neue Bremstechnologie für diese Fahrzeuge schon vorgesehen?
Wir sind noch nicht ganz so weit, doch die bisherigen Ergebnisse unserer Forschung sind sehr vielversprechend. Wir wollen die neue Bremstechnologie in den kommenden Jahren auf den Markt bringen.
Bringen die Bremsen, die bei den augenblicklich vergebenen Aufträgen eingebaut werden, diese Voraussetzungen mit?
Augenblicklich noch nicht. Doch das wird sich in Kürze ändern. Wir denken hier sehr langfristig.
Gibt es auch kurzfristigere Maßnahmen?
Die Kapazität auf dem Netz kann auch durch eine weitere Verbesserung der Zuverlässigkeit von Komponenten wie beispielweise bei Türen gesteigert werden. Kommt es hier zu weniger Störungen, gibt es weniger Verspätungen, der Fahrplan ist stabiler und eventuelle Reserven im Fahrplan für solche Störungen können aufgelöst werden. Hier gibt es verschiedene technische Lösungen, die wir bei Entwicklung und Produktion berücksichtigen. Eine Maßnahme ist beispielsweise Redundanz bei funktionskritischen Bauteilen, eine andere, Komponenten so zu konstruieren, dass sie schnell ausgetauscht werden können, ohne dass dafür der ganze Zug in die Werkstatt muss. Auch präventive Instandhaltung und Wartung durch Digitalisierung und mobile Serviceteams sind Maßnahmen, mit denen wir die Zuverlässigkeit der von uns gelieferten Komponenten erhöhen.
Das Thema Zuverlässigkeit der Komponenten ist auch für die Fahrzeughersteller wichtig, die vermehrt Garantien für die Verfügbarkeit übernehmen.
Das ist ein starker Trend. Außerdem wird heute bei Ausschreibungen auch nach Lifecycle-Kosten entschieden, d. h. die Aufwände etwa für Service, die über das Betriebsleben eines Zuges oder Systems anfallen. Wenn wir als Knorr-Bremse mit unseren Lifecycle-Management-Maßnahmen dazu beitragen, dass die Lebenszyklus-Kosten für Bremssysteme, Türen oder Klimaanlagen gesenkt werden, können die Fahrzeughersteller wiederum attraktive Angebote für jene Betreiber machen, die nach diesen Kriterien zunehmend ausschreiben.
Die Corona-Krise hat gezeigt, dass weniger Störungen und damit Verspätungen im Personenverkehr auch dem Güterverkehr zu Gute kommen, der durch die bessere Einhaltung des Fahrplans ebenfalls pünktlicher war.
Genau: Wenn der Fahrplan in Summe besser eingehalten werden kann, heißt das, dass auch der Güterverkehr pünktlicher fahren kann. Allerdings muss man sagen, dass der Schienengüterverkehr an vielen Stellen heute nicht wirtschaftlich betrieben wird und auch nicht wirtschaftlich betrieben werden kann. Hier sind weitere große, effizienzsteigernde Investitionen notwendig – beispielsweise in die Digitale Automatische Kupplung (DAK).
Welche Karten hat Knorr-Bremse bei der DAK?
Wir hatten im vergangenen Jahr angekündigt, dass wir ins Kupplungsgeschäft einsteigen werden, und haben schon einige Forschungs- und Entwicklungsprojekte für den Personenverkehr umgesetzt. Da jetzt das Thema Digitale Automatische Kupplung für den Schienengüterverkehr mit neuer Konsequenz angeschoben wird, haben wir entschieden, dass wir als Knorr-Bremse ebenfalls eine DAK entwickeln werden.
Augenblicklich werden drei Kupplungstypen erprobt. Im Frühjahr 2021 soll europaweit eine Entscheidung für einen Kupplungstyp fallen. Wo bleibt da noch Platz für eine Knorr-Bremse DAK?
Wir sind an allen Diskussionen rund um die DAK beteiligt und verfolgen die Entwicklungen sehr aufmerksam. Selbst wenn die Entscheidung für einen Kupplungstyp gefallen ist, heißt das nicht, dass nur ein Hersteller diese Kupplungen produzieren wird. Auch werden Zulassung und Migration der neuen Kupplungen einige Jahre benötigen. Wir sind überzeugt, dass wir noch genug Zeit haben, bei der DAK ein wesentlicher Anbieter zu werden.
Würde sich für Knorr-Bremse und die Komponenten etwas ändern, wenn 5G oder FRMCS eingeführt werden?
Sicherlich. Wir brauchen mehr und mehr smarte Produkte. Wir haben deshalb in Unternehmen wie Rail Vision und Railnova investiert. Die Flottenmanagementsoftware Railnova ist augenblicklich auf 1500 Lokomotiven in Europa installiert. Aus den dort erhobenen Daten können wir Erkenntnisse für die präventive Instandhaltung ableiten. Rail Vision entwickelt Realtime-Bildverarbeitung auf Basis von künstlicher Intelligenz. So kann beispielsweise mithilfe der Sensorsysteme von Rail Vision im Netz gearbeitet werden, um festzustellen, wo Grünschnitt notwendig ist, um bei Sturm Störungen im Betrieb zu vermeiden. Eine hohe Datenübertragungs-Bandbreite ist eine Voraussetzung, dass wir solche Geschäftsmodelle in Zukunft entwickeln können.
Klimaschutz wird ein langfristiger Trend bleiben. Was bedeutet dies für Knorr-Bremse?
Wir wollen nicht nur mit unseren Produkten zum Klimaschutz beitragen, sondern auch als gesamtes Unternehmen bis 2030 unsere CO2-Emissionen durch Energieeffizienz sowie die Eigenerzeugung und den Bezug von Erneuerbaren Energien halbieren. Darüber hinaus wollen wir flankierend durch Kompensation ab 2021 CO2-neutral werden. Insgesamt werden wir dem Thema Nachhaltigkeit eine noch größere Bedeutung geben.
Welchen Anteil hat der Schienengüterverkehr in der Knorr-Bremse-Logistik und welchen Anteil könnte er haben?
Wir nutzen in der Rail-Division den Schienengüterverkehr dort, wo es möglich ist und konnten gerade in 2020 unseren Bahnfrachtverkehr zwischen Europa und China steigern. Dies lag vor allem daran, dass wir während der Corona-Krise zur Absicherung unserer Lieferketten Warenverkehre, die wir auf dieser Strecke normalerweise per Schiff abwickeln, auf die Schiene verlagert haben. Daneben haben wir wegen der letzten Meile aber natürlich immer noch einen guten Anteil an LKW-Verkehr. Das zeigt noch einmal: Der Schienengüterverkehr muss das Problem der letzten Meile adressieren.
Bei Knorr-Bremse als Unternehmen sind die Umsätze der Nutzfahrzeugsparte und der Schienenfahrzeugsparte ungefähr auf gleichem Niveau. Soll das auch in Zukunft so bleiben oder soll sich das Wachstum der Schiene auch in der Umsatzverteilung widerspiegeln?
Wir sehen natürlich in diesem Jahr eine Verschiebung zugunsten der Schiene, weil der Nutzfahrzeugsektor von den Auswirkungen der Corona-Pandemie deutlich stärker betroffen ist als der Schienenfahrzeugsektor. Wir glauben jedoch, dass der Güterverkehr insgesamt wachsen wird, so dass beide Bereiche der Knorr-Bremse davon in Zukunft profitieren können. Traditionell liegen wir bei 53 zu 47 % zugunsten der Schiene. In diesem Jahr wird das Verhältnis eher in Richtung 60 zu 40 % gehen.
Eine private Frage: Was hat sich für Sie persönlich durch die Corona-Pandemie geändert?
Ich habe gelernt von alten Mustern Abstand zu nehmen: Ich reise natürlich weniger, interagiere mit Kollegen und Kunden mehr virtuell. Mit Ausnahmen geht das sehr gut und spart Zeit und Ressourcen. Diese Erfahrungen werden uns auch in der Nach-Corona-Zeit helfen, effizienter zu arbeiten und weniger Ressourcen zu verbrauchen und nicht in die alten Muster zurück zu fallen.
Das Interview aus Eisenbahntechnische Rundschau 12/2020 führte Dagmar Rees.