Dr. Josef Doppelbauer: Mehr Verantwortung für Alle
Dr. Josef Doppelbauer, Executive Director der European Union Agency for Railways (ERA), beschreibt, wie das 4. Eisenbahnpaket bei Genehmigungen und Sicherheitsbescheinigungen umgesetzt wird.
Seit Ende Oktober 2020 ist das 4. Eisenbahnpaket in allen EU-Ländern, also auch in Deutschland, umgesetzt. Wie haben Sie als Executive Director der ERA den Übergang erlebt?
Wie haben eigentlich seit dem Juni 2019, als in den ersten Mitgliedsländern das 4. Eisenbahnpaket in Kraft trat, nur kleinere Probleme gehabt. Die Einführung verlief weitgehend klaglos. Zum einen liegt dies sicherlich an der abgestuften Einführung. Im Juni 2019 sind wir mit nur acht Mitgliedsländern gestartet. Juni 2020 kamen dann sechs weitere Länder hinzu, darunter Deutschland, alle anderen Länder Ende Oktober. Zum anderen ist der weitgehend reibungslose Übergang sicherlich darauf zurückzuführen, dass wir uns gut vorbereitet haben. Es war sicher hilfreich, dass wir eine Steering Group, also einen Lenkungsausschuss hatten, in dem die nationalen Behörden von Deutschland, Frankreich, Ungarn und den Niederlanden vertreten waren. Im Lenkungskreis haben wir, im Nachhinein vielleicht etwas übertrieben, alle möglichen Szenarien, wie etwas schief laufen könnte, durchgespielt. Damit waren wir auf relativ viele Dinge vorbereitet. Worauf wir aber nicht vorbereitet waren, war, dass wir am ersten Tag, im Juni 2019, gleich neun Anträge auf Fahrzeuggenehmigung bekommen haben. Von diesen neun Anträgen waren acht nicht angekündigt, d. h. trotz langjähriger Vorbereitungen fanden wir plötzlich im Eingangskorb des neuen OneStopShops acht Anträge, die uns vorher nicht bekannt waren.
Gut 18 Monate nach dem Start – wie viele Fahrzeuggenehmigungen hat die ERA inzwischen erteilt?
Ende 2020 haben wir schon über 1250 Genehmigungen für 15 000 Fahrzeuge bearbeitet und zum Großteil positiv beschieden, davon waren rund 30 % für Lokomotiven, ein kleiner Teil Triebwagen, der Rest Güterwagen. Bei Güterwagen ist ERA schon seit Juni 2019 für die Genehmigungen in ganz Europa zuständig.
Was fiel im Prozess auf? Gibt es sich wiederholende Probleme?
Eine Beobachtung ist, dass die Abgabetermine nicht immer eingehalten werden, obwohl der Zeitrahmen für die Genehmigung immer vom Antragsteller bestimmt wird. Wenn der Antragsteller einen guten Zeitplan mit uns vereinbart und wenn die Dokumente gemäß der Planung kommen, dann läuft der Prozess reibungslos.
Ich hatte den neuen Prozess so verstanden, dass alle Dokumente da sein müssen, bevor der Prozess überhaupt gestartet wird.
Nein, das Verfahren ist zweistufig. In der ersten Phase müssen die Dokumente eingereicht werden. Dann haben wir vier Wochen Zeit, um die Vollständigkeit der Dokumente zu prüfen und zu bestätigen. Wenn nach vier Wochen diese Vollständigkeit nicht gegeben ist, dann wird der Prozess so lange auf Halt gestellt, bis die Dokumente vollständig vorliegen. Wenn wir dann die Vollständigkeit erklärt haben, haben wir vier Monate Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Es gibt außerdem einen speziellen Prozess, der mit dem 4. Eisenbahnpaket eingeführt wurde, das ist die Genehmigung in Kompatibilität zur Type. Hier gibt es nur einen einstufigen Prozess, weil die Typengenehmigung hier schon vorliegt. Aber selbst hier hatten wir überraschenderweise Probleme, weil zum Beispiel die Typnummer nicht stimmte. Für die Genehmigung in Kompatibilität zur Type haben wir gemäß den Vorgaben 30 Tage Zeit. Augenblicklich schaffen wir das im Durchschnitt in 3 bis 4 Tagen.
Wie sind die Erfahrungen mit der Ausstellung der Sicherheitsbescheinigung?
Stand Ende November haben wir bisher 19 Sicherheitsbescheinigungen ausgestellt. Auch hier gab es gute Anträge und grottenschlechte, bei denen wir den Antragsteller bitten mussten, den Antrag zurückzuziehen. Ein grundsätzliches Problem ist augenblicklich noch die Frage der Gültigkeit von Sicherheitsbescheinigungen bei Grenzstationen. In der Vergangenheit gab es bilaterale Abkommen zwischen den Infrastrukturbetreibern, die sich gegenseitig zugesichert haben, dass das EVU aus dem jeweiligen anderen Land zum Grenzbahnhof fahren kann. Das 4. Eisenbahnpaket fordert jedoch, dass es bilaterale Abkommen zwischen den nationalen Sicherheitsbehörden gibt. Diese bilateralen Abkommen sind noch nicht in allen Fällen umgesetzt. Dies hat dann zur Folge, dass ein EVU eine Sicherheitsbescheinigung für das ganze Land braucht, um in einen Grenzbahnhof fahren zu können.
Wie hat sich die Zusammenarbeit zwischen ERA und nationalen Behörden entwickelt?
Sehr gut. Am Anfang gab es sicherlich Bedenken, weil die Mitarbeiter in den nationalen Behörden unsicher waren, was auf sie zukommt. Aber wir haben schnell mit unseren nationalen Kollegen Teams gebildet. Wenn man kontinuierlich zusammenarbeitet, weiß jeder, wie der andere tickt. Die Kommunikation funktioniert gut und es kommen ganz selten Probleme hoch. Ehrlich gesagt läuft es wesentlich besser als ich gedacht habe. Genau das brauchen wir in der EU: ein einheitliches europäisches Denken und Handeln und nicht immer das nationalstaatliche Kästchendenken.
Wie kommt die ERA mit der Vielfalt der Ländersprachen in der EU zurecht?
Wir müssen Anträge in allen 24 offiziellen europäischen Sprachen annehmen. Das ist insofern problematisch, als wir zwar für alle Sprachen muttersprachliche Mitarbeiter haben, aber nicht immer die passende Kombination technisches Fachgebiet/Sprache. Ein weiteres Problem ist, dass der Gesetzeslage nach der Antrag zwar durchgehend in einer Sprache gestellt werden muss, dies aber praktisch nie der Fall ist. Wir haben Anträge bearbeitet, bei denen Dokumente in bis zu acht verschiedenen Sprachen beigefügt waren, weil natürlich die Behörden ihre Bescheide in der jeweiligen Landessprache ausstellen. Wir haben uns dann relativ rasch für eine pragmatische Lösung entschieden: Wir akzeptieren es, wenn der Antragsteller eine Übersetzung beilegt in einer Sprache, die wir verstehen, also gängigen Sprachen wie Englisch, Französisch, Deutsch oder Italienisch. Wir haben genügend muttersprachliche Mitarbeiter, dass wir, wenn wir den Eindruck haben etwas könnte nicht korrekt übersetzt sein, das überprüfen können.
Beteiligt am Prozess sind auch verschiedene Arten von privatwirtschaftlichen Gutachtern und Prüfunternehmen, deren Notifizierung bei den nationalen Behörden liegt, während die ausgestellten Zertifikate EU-weit gelten. Wie wird ein einheitlicher Standard garantiert?
Durch das 4. Eisenbahnpaket haben wir als ERA die Aufgabe, diese sogenannten Assessment Bodies zu überwachen, sowohl die Anerkannten als auch die Akkreditierten, die jeweils unterschiedliche Aufgaben haben. Wir haben ein Monitoring- und Assessment-Schema entwickelt und auditieren seit 2019 nach und nach alle Assessment Bodies. Das dauert natürlich eine gewisse Zeit, doch letztendlich bringen wir so alle Assessment Bodies auf den gleichen Stand.
Wie geht das zusammen mit der Zuständigkeit der nationalen Behörden?
Die Verantwortung für die Akkreditierung bleibt natürlich bei diesen Stellen, in Deutschland also beim Eisenbahn-Bundesamt. Aber wir übergeben unsere Audit-Ergebnisse an die nationale Behörde und haben in besonders krassen Fällen auch die Möglichkeit, ein Assessment Body aus der zentralen europäischen Liste zu streichen.
Gibt es aufgrund Ihrer jetzigen Erfahrungen noch grundsätzlichen Verbesserungsbedarf?
Der One-Stop-Shop funktioniert gut – sogar besser als erwartet. Die Tools könnten jedoch benutzerfreundlicher sein.
In der Praxis hat sich gezeigt, dass der Genehmigungsprozess bei der Umrüstung von Altfahrzeugen, bei denen es den Hersteller nicht mehr gibt und damit keinen Halter der Typengenehmigung, schwierig werden kann.
Die grundsätzliche Änderung mit dem 4. Eisenbahnpaket ist, dass wir allen Beteiligten eine Verantwortung im Prozess geben. Dies bedeutet für den Antragsteller, er darf entscheiden, ob eine Genehmigung notwendig ist und er muss eine Schlusserklärung abgeben, dass das Fahrzeug sicher betrieben werden kann (Einzelheiten zum Prozess bei Altfahrzeugen im Kasten am Schluss des Interviews). Die nächste Stufe, die wir anstreben, wäre die sogenannte Design Authority wie in der Luftfahrt. Hier zertifiziert man als Behörde nicht mehr das Einzelprodukt, sondern den Hersteller. Wenn dann ein Produkt eines offiziell anerkannten Entwicklungsbetriebs auf den Markt kommt, wird es ohne gesonderte Prüfung als sicher angesehen.
Wäre der Abschied von einer Fahrzeuggenehmigung hin zur Zertifizierung der Fahrzeughersteller Teil eines 5. Eisenbahnpakets?
Hier denken wir in etwas längeren Zeiträumen. Auch in der Luftfahrt gibt es noch die Flugtauglichkeitsprüfung und die Genehmigung der Flugzeuge. Grundsätzlich müssen wir auf die Eigenverantwortung der Industrie setzen. Wir haben gar nicht die technischen Möglichkeiten beispielsweise ein komplexes Softwarepaket zu überprüfen.
Mit der Digitalisierung ergeben sich neue Aufgaben in Bezug auf Standardisierung und Cybersecurity. Was ist hier die Herangehensweise der ERA?
Die Digitalisierung und der Umgang mit Daten gewinnen immer größere Bedeutung. Wir haben es in der EU geschafft, bei anderen technischen Faktoren ein hohes Maß an Interoperabilität herzustellen – jetzt müssen wir verhindern, dass wir bei den Daten zurückfallen. Wir haben deshalb das Konzept der „gelinkten Daten“ entwickelt und hier 2020 zwei Pilotprojekte durchgeführt. Bei „gelinkten Daten“ liegen die Daten nicht zentral in einer Datenbank, sondern wir verlinken die Daten aus den unterschiedlichsten Quellen und machen sie für Endbenutzer sichtbar. Das ist das Verfahren, mit dem beispielsweise auch Google arbeitet. Das bedeutet, dass nicht alle Daten im gleichen Format, dem Format der zentralen Datenbank, vorliegen müssen, um nutzbar zu sein. Statt starrer Formate werden Ontologien genutzt, das heißt ein gemeinsames inhaltliches Verständnis, was diese Daten bedeuten. Wir müssen bei Daten auch über das System Eisenbahn hinaus denken. Ziel der EU ist es, ein multimodales Verkehrssystem zu schaffen.
Bei Daten stellt sich immer die Frage nach Cybersecurity, also der Schutz der Integrität der Daten vor Angriffen über das Internet. Es gibt auf europäischer Ebene ebenso wie auf nationaler Ebene die Vorgabe, dass kritische Infrastrukturen wie die Eisenbahn eigenständige Prozesse für das Melden von Cyberangriffen haben bzw. auch für das Sicherstellen der jeweiligen Cybersecurity in ihren Branchen. Gibt es eine Koppelung der nationalen bzw. europäischen Institutionen für Sicherheit in der Informationstechnik und der ERA?
Es gibt die europäische Agentur für Informationssicherheit (ENISA). Wir arbeiten sehr eng mit ENISA zusammen, unter anderem in einem Expertengremium für Cybersecurity bei der Eisenbahn. Auch mit den jeweiligen nationalen Behörden, in Deutschland dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, sind wir in einem engen Austausch. Ein zunehmend wichtiger Aspekt unserer Arbeit ist, dass wir bei der Fahrzeuggenehmigung potentielle Sicherheitsrisiken berücksichtigen, die sich aus Cybersecurity-Fragen ergeben.
Die Eisenbahn ist auf dem Weg zu einem höheren Automatisierungsgrad. Augenblicklich befindet sie sich auf Niveau GoA1 und bewegt sich auf GoA2 zu. GoA3 und GoA4 stehen in der Zukunft an. Welche europäischen Regelwerke müssten wie geändert werden, um die Automatisierung zu ermöglichen?
Wir bereiten die neue TSI ZZS (Zugsteuerung und Zugsicherung) für 2022 vor. Diese sieht die Automatisierung bis GoA2 vor. In der nächsten Version wird diese dann auf GoA3 und GoA4 erweitert werden. Das Gegenstück dazu ist die TSI OPE, also die TSI für die Betriebsführung. Grundsätzlich haben wir bei der TSI OPE schon 2019 einen Vorgriff auf neue Technologien gemacht, weil wir nicht mehr im Detail hineingeschrieben haben, wie zum Beispiel eine Bremsprobe durchzuführen ist, sondern nur noch definiert haben, welche Prüfungen vor der Abfahrt eine Zuges durchzuführen sind. Damit ist jetzt schon die Möglichkeit eröffnet, Prüfungen automatisiert durchzuführen.
Wie schätzen Sie den Fortschritt bei ETCS ein und wo sehen Sie im Augenblick Hemmnisse?
Im Augenblick sind wir noch nicht ganz so weit wie geplant. Sehr positiv ist, dass jetzt einige der großen Mitgliedsstaaten wie Frankreich und Deutschland den Rollout von ETCS vorantreiben wollen. Insbesondere Deutschland wird bis 2030 erheblich investieren. Wenn ein großes Land wie Deutschland, das in der Mitte Europas liegt, massiv den ETCS-Rollout vorantreibt, wird dies eine starke Dynamik in die richtige Richtung auslösen. Wir haben stabile Spezifikationen und mit dem 4. Eisenbahnpaket und der Fahrzeuggenehmigung durch die ERA einen Prozess, der ein zügiges Ausrollen der Technik ermöglicht. Wir haben unter anderem eingeführt, dass bei Softwareveränderungen am Fahrzeug nicht zwangsweise eine neue Genehmigung erlangt werden muss. 2022 werden wir den nächsten Sprung machen, indem wir das Funksystem von GSM-R auf 5G anheben, so dass wir ATO über ETCS bei GoA2 einführen können. Das alles bei voller Vorwärts- und Rückwärtskompatibilität, um bisherige Investitionen in das System Bahn nicht zu entwerten. Es ist ein teures und komplexes System und in der Eisenbahn braucht alles Zeit.
Gibt es schon Vorbereitungen für ETCS Level Drei?
Level Drei ist ja grundsätzlich schon in den Spezifikationen der TSI ZZS enthalten. Es werden mit der 2022er-Version noch einige Unklarheiten bereinigt. Ein wesentlicher Aspekt bei Level Drei ist die Sicherung der Zugintegrität. Das soll in der neuen TSI ZZS in 2022 berücksichtigt werden. Fortschritte auf Fahrzeugseite erwarten wir uns zum Beispiel von der Digitalen Automatischen Kupplung (DAK) bei Güterwagen, über die die Zugintegrität festgestellt werden kann.
Die EU hat 2021 zum Jahr der Eisenbahn ausgerufen. Gleichzeitig wurde das Budget der ERA gekürzt. Wie passt das zusammen?
Teile der Kommission sind der Meinung, dass wir als ERA ja jetzt Gebühren für die Genehmigungen und Bescheinigungen erheben und uns deshalb stärker aus den Gebühren finanzieren sollen. Ich denke, man sollte die Eisenbahn als Verkehrsträger fördern und die Akteure im System Bahn, also die Hersteller und die Eisenbahnverkehrsunternehmen, nicht mit hohen Gebühren belasten, um die ERA zu finanzieren. Zumal bei den anderen Agenturen, also den Agenturen für Luftfahrt und Schifffahrt, die Budgets nicht gekürzt wurden.
Wie hat sich die Corona-Pandemie auf die Arbeit der ERA ausgewirkt?
Da der One-Stop-Shop, der mit dem 4. Eisenbahnpaket eingeführt wurde, in der Cloud liegt, wickeln wir den gesamten Workflow über das Internet ab. Wir konnten sofort auf Telearbeit für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umstellen, so dass sich bei Fahrzeug- und Streckengenehmigungen sowie den Sicherheitsbescheinigungen trotz Corona-Pandemie nichts geändert hat.
Eine private Frage: Was hat sich für Sie persönlich durch die Corona-Pandemie geändert?
Meine Devise ist: Man muss vor Ort sein. Im ersten Lockdown war man deshalb vier Monate am Stück praktisch alleine im ERA-Gebäude in Valenciennes. Dies waren die ersten vier Monate in meinem Berufsleben, in denen ich ununterbrochen an einem Ort war, kein Flugzeug bestiegen, keinen Zug betreten, in keinem Hotel übernachtet habe. Und natürlich merke ich, dass mein Terminkalender voller und voller wird, weil alle sehen können, dass ich erreichbar bin. Das ist eine gewaltige Umstellung. Aber es hat auch seine Vorzüge. Im zweiten Lockdown haben wir dann schon etwas mehr Erfahrung gehabt, aber auch stärker gespürt, welchen Stellenwert die direkte Interaktion von Mensch zu Mensch hat, ohne dazwischen geschaltete digitale Medien. Wir haben gesehen, wie wichtig in schwierigen Zeiten der Zusammenhalt ist.
Das Interview aus der Eisenbahntechnischen Rundschau 1-2/2021 führte Dagmar Rees.