Dipl. Wirtsch.-Inf. Oliver Kraft
"Der Herr der Schienen"
Oliver Kraft hat viele Baustellen. Er führt ein Unternehmen, das wie kaum ein zweites täglich die technischen Herausforderungen des Schienenverkehrs meistern muss und dabei immer im Blick der Öffentlichkeit steht. ETR sprach im Sommer 2010 mit ihm über Finanzen, Bauvorhaben, ETCS, Politik und das Potenzial von Schienenstegdämpfern.
Herr Kraft, seit Februar sind Sie Chef der DB Netz AG, mit rund 34 000 Streckenkilometern der größte Bahninfrastrukturbetreiber in der EU. Sicherlich keine einfache Aufgabe, viele Augen schauen auf Sie. Was hat Sie eigentlich veranlasst, diesen Job anzunehmen?
Die Komplexität, die wir bei der Bahn und vor allem bei der Infrastruktur haben, ist extrem hoch. Das ist genau der Punkt, der mich gereizt hat. Wir sind ein Unternehmen mit über 40 000 Mitarbeitern, über 30 000 Streckenkilometern, einem Umsatz von über 4 Milliarden EUR und einem Investitionsvolumen von 5 Milliarden EUR. Für mich ist es immer wieder eine Herausforderung, dafür zu sorgen, dass wir einerseits die Qualität hochhalten, die schließlich der Grundpfeiler unserer Arbeit ist, dass andererseits aber auch das wirtschaftliche Ergebnis stimmt. Diese Herausforderung finde ich extrem spannend.
Sie sind von Hause aus Informatiker und kein Ingenieur. Übrigens der erste Nicht-Ingenieur auf dieser Position. Ist das ein Vorteil oder eher ein Nachteil?
Ich habe an der Technischen Universität in Darmstadt Wirtschaftsinformatik studiert, bin also sowohl betriebswirtschaftlich als auch technisch ausgebildet, und habe dann während meiner gesamten beruflichen Laufbahn immer in beiden Sparten gearbeitet. Die Wirtschaftsinformatik hat mir sehr geholfen, komplexe Dinge zu verstehen. Wenn Sie immer nur durch die Brille des Technikers oder des Betriebswirts blicken, kann es Sachverhalte geben, die Sie vielleicht nicht wahrnehmen. Mit der Integration beider Seiten, der technischen und der kaufmännischen, haben sie einen ganz anderen Blick auf Themen und Zusammenhänge. Insofern empfinde ich es nicht als Nachteil, dass ich kein reiner Ingenieur bin, sondern sehe es momentan eher als Vorteil, da ich beide Themenfelder abdecken kann.
Das Stichwort „Regionalfaktoren“ ist ja im Moment ein sehr heißes Thema. Wie sehen Sie das aus Ihrer Perspektive?
Also, ich mache es mir jetzt erstmal bequem. Können Sie auch, wenn Sie wollen… (legt Jackett ab)
… Thema zu heiß?
Nein, überhaupt nicht (lächelt). Zufällig war ich, wenn auch in anderer Funktion, damals an der Entwicklung der Regionalfaktoren beteiligt. Die Ausgangslage war, dass wir Nebenstrecken hatten, die wirtschaftlich nicht existenzfähig waren. Wir mussten entscheiden, ob wir diese Nebenstrecken über kurz oder lang aufgeben oder ob wir sie erhalten. In diesem Zusammenhang kam die Idee auf, spezielle Trassenpreise für diese Strecken einzuführen, die Regionalfaktoren. Als die Regionalfaktoren dann eingeführt wurden, haben die Bundesländer höhere Regionalisierungsmittel vom Bund bekommen, um die Regionalfaktoren finanzieren zu können. Wir als Bahn haben uns im Gegenzug verpflichtet, diese Nebenstrecken nicht nur zu erhalten, sondern auch in sie zu investieren. Es war also zum damaligen Zeitpunkt eine Win-Win-Win-Situation: Die Länder, der Bund und die DB waren an der Lösung beteiligt und alle Beteiligten waren zufrieden.
Was war der Auslöser dafür, dass jetzt eine andere Sichtweise aufkommt?
Seit 2006 ist die BNetzA als Regulierungsbehörde tätig. Sie hat in dieser Regelung ein gewisses Ungleichgewicht gesehen und daraufhin einen Bescheid erlassen und uns ab 12.12.2010 die Anwendung der (RF) untersagt. Diese Entscheidung führt ihrerseits wieder zu Ungleichgewichten, denn durch die Abschaffung der Regionalfaktoren ist eine Reihe von Strecken wieder gefährdet, das heißt, sie müssen eventuell aufgegeben werden. Wenn die Regionalfaktoren wegfallen, müssten wir das, was wir für sie bislang bekommen haben, in das normale Trassenpreissystem einpreisen. Das würde in der Praxis bedeuten, dass Länder wie z. B. Bayern oder Baden-Württemberg mehr bezahlen müssten und andere Länder weniger. Mit der Entscheidung der Bundesnetzagentur sind wir von einer Win-Win-Win-Situation in eine Lose-Lose-Lose-Situation gekommen. Daher haben wir auch Widerspruch gegen diese Entscheidung eingelegt.
Bleiben wir im Bundesumfeld. Stichwort „parallele Führung privater Infrastrukturen“, eine Idee aus dem Bundesverkehrsministerium. Wie sehen Sie das aus Ihrer Perspektive? Könnte dies zur Verbesserung des Schienenverkehrs in Deutschland beitragen?
Neutral betrachtet, muss man anerkennen, dass auch private Infrastruktur dazu dient, Verkehr auf die Schiene zu bringen, also auch als Zubringerverkehr auf unser Schienennetz. Von daher sehe ich private Infrastruktur eher positiv. Allerdings darf die staatliche Förderung für die private Infrastruktur nicht zu Lasten der bundeseigenen Infrastruktur gehen. Das wäre fatal, denn wir wissen, dass schon heute der Bedarfsplan deutlich unterfinanziert ist. Insofern müsste die Finanzierung privater Infrastruktur außerhalb dessen laufen, was derzeit für die Bundesfinanzierung angesetzt ist. Außerdem müsste die Förderung nach denselben Regularien laufen wie bei der bundeseigenen Schiene, das heißt, sie müsste auf Nutzen-Kosten-Untersuchungen basieren, die nachweisen, dass mit dem Bau der neuen privaten Infrastruktur auch tatsächlich ein vernünftiger Verkehrs-Effekt erzielt wird.
Wie steht es mit der Finanzierung überhaupt: Welche Eigenmittel, welche Fremdmittel investiert die DB Netz jährlich? In Unterhalt, Sanierung, Neubau.
Wir haben im Jahr 2009 rund 1,4 Milliarden für den Unterhalt und für die Instandsetzung/Instandhaltung des Schienenweges aufgebracht. Das sind zu 100 % Eigenmittel, wir verwenden einen Teil der Trassenpreise zur Finanzierung. In den Unterhalt des Bestandsnetzeshaben wir rund 2,7 Milliarden Euro investiert, davon rund 400 Millionen aus Eigenmitteln. Allein diese Zahlen belegen, dass Vorwürfe, die Bahn würde nicht investieren, nicht haltbar sind. Die dritte Zahl ist auch noch ganz interessant: die Neu- und Ausbauaktivitäten, die jetzt durch das Konjunkturprogramm ein sehr hohes Niveau erreicht haben, liegen bei rund 1,6 Milliarden Euro. Die Deutsche Bahn gibt hier rund 120 Millionen an Eigenmitteln hinzu.
Befürchten Sie, dass die Sparpolitik der Bundesregierung auch Auswirkungen auf ihre Investitionspolitik haben wird?
Man muss sich die Realität vor Augen halten: Der Bundeshaushalt ist überschuldet, jetzt müssen gewisse Einsparungen erfolgen. Die schwierige Frage für die Politik ist natürlich, an welcher Stelle die Einsparungen erfolgen sollen. Hier sollte man zwischen der konsumtiven und der investiven Seite unterscheiden. Wenn sie auf der investiven Seite Einsparungen vornehmen, würgen Sie auch immer einen Teil des Wirtschaftsaufschwungs ab. Insofern setze ich darauf, dass die Bundesregierung gerade im investiven Teil, und dazu gehören nun einmal auch die Investitionen in die Schiene, weniger Kürzungen vornimmt als sie es vielleicht an anderer Stelle tut.
Es gab im Frühjahr ein Papier von Ihnen, in dem Sie aufzeigen, dass eigentlich jetzt schon eine Unterfinanzierung der Schiene stattfindet…
Ja.
Das Papier belegt, dass viele Projekte noch nicht finanziert, aber bereits geplant sind, besonders auch internationale Verpflichtungen. Wo setzen Sie hier die Schwerpunkte?
Wir können anhand der momentanen Verkehrsströme und ihrer voraussichtlichen Entwicklung aufzeigen, wo Engpässe entstehen werden, wenn wir bei der heutigen Infrastruktur bleiben und nicht ausbauen. Wie Engpässen, besonders auf der stark belasteten Nord-Süd-Achse, vorgebeugt werden kann, haben wir in unserem Wachstumsprogramm dargelegt. Mit einer Größenordnung von rund 2 Milliarden Euro pro Jahr ist das Wachstumsprogramm im Verhältnis zu dem, was Großprojekte kosten, relativ überschaubar. Es ist ein Vorschlag, der von unserer Seite auf dem Tisch liegt. Des Weiteren sind wir dabei, im Bereich des Betriebes und der Fahrplanregelung innovative Verfahren einzuführen. Stichwort ist hier Free Flow, um die Kapazitäten, die wir noch haben, auf der bestehenden Schiene, optimal auszunutzen. Und natürlich bietet eine gut instand gehaltene Schiene mehr Kapazitäten als eine mangelhafte. Aber eines muss ich doch klarstellen: Die Prioritäten und welche Maßnahmen sowohl im internationalen Bereich als auch im nationalen umgesetzt werden, die setzt der Bund, und nicht die Bahn.
Machen wir‘s konkret: Der Schienenkorridor A zwischen Rotterdam und Genua mit ETCS ist so ein Projekt, das von der EU angestoßen wurde. Wie gestaltet sich die Einführungsstrategie ETCS für die DB Netz auf diesem Korridor, der wegen des zunehmenden Schienengüterverkehrs kräftig wachsen wird?
Das ist richtig. Wir gehen alle davon aus, dass der Güterverkehr, gespeist von den ARA-Häfen, also Amsterdam, Rotterdam und Antwerpen, in der Zukunft weiter ansteigen wird. Eine der Hauptachsen liegt auf dem Korridor A, das heißt auf dem Abschnitt von Emmerich über Mannheim und Karlsruhe bis Basel. Im Streckenabschnitt Karlsruhe-Basel planen wir derzeit zwei zusätzliche Gleise und sind in einigen Teilbereichen schon am Bauen. Hier ist die Einführung von ETCS mit in der Finanzierung enthalten und wird schon umgesetzt. Der zweite große Abschnitt, der von der Infrastrukturseite her ebenfalls einen Engpass bildet, ist der Abschnitt Oberhausen – Emmerich. Hier sind wir dabei, ein ESTW zu installieren, das Ende des Jahres in Betrieb geht. Wir werden dann auch die Blockverdichtung realisieren, so dass wir mehr Kapazitäten in diesem Abschnitt zur Verfügung haben, und dies bedeutet auch die Installation von ETCS. Das dritte Paket ist das so genannte Konjunkturpaket. Auch hier werden an bestimmten Stellen des Korridors für über 100 Millionen Euro ETCS-Vorrüstungen durchgeführt, so dass wir im Korridor A schon in weiten Teilen ETCS-Abschnitte haben. Ich will nicht verheimlichen, dass es dann immer noch Abschnitte gibt, wo TCS noch nicht installiert ist. Hier muss noch eine entsprechende Finanzierung von Seiten des Bundes bereitgestellt werden.
Kann man aus Ihren Worten schließen, dass seitens der DB Netz AG grundsätzlich dem Thema ETCS heute etwas aufgeschlossener gegenübergestanden wird als noch in den vergangenen Jahren?
Wir müssen eines sehen: Es ist ein Unterschied, ob ich kein System habe und ein neues System wie ETCS einsetze, wie dies in manchen EU-Ländern der Fall ist, oder ob ich wie in Deutschland ein bestehendes, gut funktionierendes System habe, das ich Schritt für Schritt ablösen muss. Zudem darf man nicht vergessen, dass ETCS noch nicht in allen Bereichen 100 % installiert und sicher sind. Erst mit dem Release 3.0 wird ja die Funktionalität überhaupt erreicht werden, die wir heute schon auf dem deutschen Netz haben, und Release 3.0 soll laut Industrie frühestens 2013 zur Verfügung steht. Bei ETCS gibt es also noch einige Hürden zu überwinden. Diese Feststellung darf aber nicht dahingehend missverstanden werden, dass wir Gegner von ETCS sind. Das wäre eine Missinterpretation.
Neben ETCS bewegt in Europa die Frage der Nachhaltigkeit, Umweltverträglichkeit. Das Pilotprojekt „Leiser Rhein“ wurde von der Bundesregierung 2008 angeschoben, mit den Zielen Umrüstung von Güterwagen und Lärmminderungsmaßnahmen im Infrastrukturbereich entlang des Rhein-Korridors. Gibt es erste Erfolge und wie soll es weitergehen?
Wir sind als Infrastrukturbetreiber und quasi öffentlicher Mobilitätsanbieter darauf angewiesen, dass die Bevölkerung die Bahn akzeptiert. In den letzten Jahren ist das Thema Lärm sehr stark in den Fokus gerückt und hat der Bahn ein paar Akzeptanzprobleme gebracht. Wir sind jetzt dabei, auch mit Hilfe des Konjunkturpaketes, innovative Lärmschutzmaßnahmen auszuprobieren, um den Lärm an der Quelle zu bekämpfen. Dazu gehören beispielsweise Schienenstegdämpfer, – die Brückenentdröhnung, die Gabionen-Wände und Unterschottermatten – in der Summe sind es über 20 innovative Maßnahmen. Die ersten Messungen am Rhein mit Schienenstegdämpfern zeigen deutlich positive Ergebnisse. Ich halte es für sinnvoll, dass wir unser klassisches Lärmschutzprogramm, für das wir schon heute 100 Millionen Euro jährlich ausgeben, um solch innovative Lösungen ergänzen.
Herr Kraft, wir haben gesehen, auf DB Netz warten eine ganze Reihe von spannenden, neuen Herausforderungen und Aufgaben. Die Frage, die sich da aufdrängt: Wie können Sie das in Zukunft von der personellen Seite her gestalten? Ist genug Ingenieurskraft, sind genug Managementressourcen vorhanden?
Im letzten Jahrzehnt hatten wir einen Rückgang der Mitarbeiterzahlen von über 100 000 auf 40 000. Das lag natürlich in erster Linie daran, dass wir durch die Einführung von ESTW´s den Betrieb rationalisierten. In der Zukunft werden die Rationalisierungsthemen weniger und gleichzeitig die Herausforderungen an den Betrieb, an die Instandhaltung, an die Planung, größer. Wir brauchen gut ausgebildete Ingenieure. Sie in Deutschland zu finden, ist sehr schwer geworden. Es gibt schon einen Wettkampf um gut ausgebildete, junge Mitarbeiter.
Was tun Sie denn, um sich einen großen Anteil derer zu sichern, die es überhaupt noch gibt?
Wir suchen inzwischen sehr aktiv Mitarbeiter für die Bahn. Unter anderem arbeiten wir sehr eng mit einigen Fachhochschulen und Universitäten zusammen und bieten dort Studiengänge an, aber auch eine duale Ausbildung, d. h. Praxis bei der Bahn, Theorie an der Universität. Wir sind sehr aktiv bei Hochschulmessen und versuchen, die jungen Menschen zu überzeugen, dass wir ein interessanter Arbeitgeber sind, gerade auch was Komplexität und Vielfalt der Aufgaben, aber auch die Umweltthemen angeht. Dies gelingt uns zunehmend. Wir bekommen heute sehr interessante Bewerbungen und ich hoffe, dass es so bleibt. Wenn man sieht, dass in China jedes Jahr mehrere Hunderttausend Ingenieure fertig werden, und die entsprechenden Zahlen in Deutschland sehr gering sind, dann muss man sich schon überlegen, wo wir in 20 Jahren stehen.
Vielleicht senden Sie ja auch persönlich ein gutes Signal nach draußen. Dadurch dass Sie zeigen, dass auch ein Nicht-Ingenieur bei der Bahn Karriere machen kann.
Ich hoffe, dass das nicht das einzige Kriterium ist (gemeinsames Lachen).
Vielleicht ist das Bild der Eisenbahn bei der jungen Generation nicht modern, nicht attraktiv genug?
Die Bahn, gerade auch die Infrastruktur, wird vielleicht von vielen noch als altes System angesehen: Schiene, Schotter, Stein, da kann man ja noch sehen, was passiert. Aber wenn Sie sich unsere Fahrplansysteme, Betriebssysteme, Dispositionssysteme anschauen, wenn Sie sich ein elektronisches Stellwerk oder eine Betriebszentrale anschauen, dann ist das Hochtechnologie vom Feinsten. Beim digitalen Funk beispielsweise sind wir weiter als viele andere Unternehmen. Wir haben hier ein eigenes digitales Netz mit über 20 000 Kilometern. Wir arbeiten mit hoch qualifizierten Professoren und Ingenieuren in Deutschland und auf der ganzen Welt zusammen, um diese Systeme immer weiter zu entwickeln. Dieses moderne Element der Infrastruktur muss man noch viel stärker in den Vordergrund rücken, um das Interesse von jungen Ingenieuren zu wecken.
Sie geben das Stichwort zum nächsten Punkt: Internationalität. Sie sagten, „Wir arbeiten mit Ingenieuren und Bahnen auf der ganzen Welt zusammen“. Mit welchen spielen Sie das Spiel sehr eng und was sind dort vor allem die Themen? Wo sind die „Preferred Partner“?
Wir sind in unseren Kontakten so ausgelegt, dass wir primär die Nachbarbahnen betrachten. Das ergibt sich schon daraus, dass wir die internationalen Fahrpläne und Verkehre, aber auch betriebliche Themen wie Baustellen und Sperrungen aufeinander abstimmen. Insofern gibt es keine Preferred Partner, sondern eben Bahnen, mit denen wir direkten Kontakt haben und mit denen wir folglich intensiv zusammenarbeiten. Es gibt aber auch Kontakt zu Bahnen, die nicht direkt an uns angrenzen. Mit diesen tauschen wir uns aus, jedoch nicht so oft.
Wobei auch Know-how-Transfer stattfindet?
Es ist oft so, dass wir in Deutschland Themen aufgreifen, analysieren und dann die Ergebnisse vorstellen. Bei bestimmten Themen haben wir die Federführung.
Welche sind das?
Alles, was mit dem System Rad-Schiene zu tun hat. Da wir ein integrierter Konzern sind, also nicht in verschiedene, einzelne Sparten wie in anderen Ländern aufgesplittet sind, haben wir das entsprechende Know-how, beispielsweise bei Themen wie Head-Checks. Wir können eben nicht nur das System Schiene betrachten, sondern auch den Einflussfaktor Rad. Dies ist ein entscheidender Vorteil, den wir in Deutschland haben und den wir auch ausnutzen.
Zum Beispiel über die DB International, die ja als Consultant weltweit unterwegs ist. Gibt es da Berührungspunkte, sind Sie da mit im Boot mit dem Know-how der DB Netz AG?
Wir arbeiten sehr eng mit DB International zusammen. Sie haben viele Aufträge gewonnen, die auch erfolgreich abgewickelt werden. Das ist genau die Referenz, die DB International im Ausland braucht. Wenn Sie heute in China oder auch in den arabischen Ländern einen Auftrag gewinnen wollen, müssen Sie als Referenz den deutschen Markt mitbringen, dann gehen die Türen auf. Wenn Sie das nicht können, dann haben Sie im Ausland ein Problem.
Eigentlich müsste dann noch ein Dritter mit im Bunde sein, nämlich die Industrie, die ja die erfolgreiche Technik für einen erfolgreichen Schienenverkehr in Deutschland liefert. Muss man dann nicht diesen Referenzbogen noch ein bisschen weiter spannen, in dem man sagt: Wenn DB International unterwegs ist, dann ist nicht nur DB Netz erfolgreich mit im Boot als Referenz, sondern letztendlich auch die Produkte und die Technologien, die von den Firmen kommen, die diese Technologien entwickelt haben?
Wir haben in Deutschland einen sehr großen Mittelstand. Dieser Mittelstand ist natürlich nur zum Teil international aufgestellt. Natürlich haben die mittelständischen Unternehmen mit der Referenz Deutschland sehr gute Einstiegschancen auch auf dem ausländischen Markt. Und bei der Großindustrie ist es heute eine Selbstverständlichkeit.
Kommen wir zum Schluss. Wenn Sie vier Wünsche hätten, welche wären das?
Also, ich kenne das immer nur mit drei Wünschen, aber ich finde das interessant, dass ich einen mehr habe. Toll.
Na ja, die ETR war immer schon etwas Besonderes. Kommen wir zu den Wünschen. Zuerst an die Bahnindustrie.
Wir sind mit der Bahnindustrie in verschiedenen Themen unterwegs und arbeiten an verschiedenen Themen zusammen. Was ich mir wünsche ist, dass die deutsche Bahnindustrie weiterhin innovativ bleibt und entsprechend in Innovationen, in Forschung investiert, so dass ich als Infrastrukturbetreiber von diesen Innovationen profitieren kann.
Das ist sozusagen die Überleitung zu dem zweiten Wunsch, er geht an die Wissenschaft und die Forschungseinrichtungen.
Es wird in Deutschland ja immer der Forschung und den Hochschulen vorgeworfen, dass sie zwar intellektuell hervorragend sind, aber leider die Theorie nicht in die Praxis umsetzen können. Zu dieser Situation haben beide Seiten ein Stück beigetragen. Deshalb müssen wir als Bahn ganz nah an die Hochschule rücken, wie wir es an einigen Stellen schon gemacht haben, und müssen versuchen, die Themen, die an der Hochschule entwickelt werden, anschließend in die Praxis umzusetzen. Da wünschte ich mir ein noch stärkeres aufeinander Zugehen und eine stärkere Umsetzung dieser Themen.
Der dritte Wunsch gilt den Eisenbahnverkehrsunternehmen, nicht unbedingt den hauseigenen, sondern den vielen Privatbahnen. Welchen Wunsch hätten Sie hier für die Zukunft?
In Deutschland gibt es mittlerweile über 300 EVUs, die nicht bundeseigen sind. Dies ist eine Vielfalt, die in Europa einmalig ist. Wir haben einmal aufaddiert, wie viele Privatbahnen im europäischen Ausland zusammengenommen fahren, und kamen auf nicht einmal 300. Insofern sind wir in Deutschland absolut federführend. Mein Wunsch an die EVUs, und da mache ich keinen Unterschied, ob es konzerneigene oder nicht-konzerneigene sind: Fahren Sie so viele Trassenkilometer wie nur möglich.
Last but not least: Der vierte Wunsch geht, wie könnte es anders sein, an die Politik, denn die ist ja für Sie als bundeseigenes Unternehmen ein ganz maßgeblicher Faktor.
Ich finde es wichtig, mit der Politik ein normales und gutes Verhältnis zu haben, wie das zu einem normalen Wirtschaftsunternehmen gehört. Und wenn die Politik ein Augenmerk darauf hat, dass eine ihrer Beteiligungen oder Töchter, wie man das auch sehen will, vernünftig finanziell ausgestattet ist, dann ist das eine Win-Win-Situation. Denn am Ende des Tages kommt es den Politikern ja wieder zugute, wenn wir in Deutschland eine gute Infrastruktur haben, wenn wir das Wachstum nicht behindern, und wenn sie keine Briefe kriegen aus ihren Wahlbezirken, in denen sich ihre Wähler über den schlechten Zustand der Bahn beklagen. Trotz aller schwierigen Umfeldbedingungen, die wir derzeit haben, wäre es aus meiner Sicht wichtig, trotzdem oder gerade jetzt in die Infrastruktur zu investieren.
Zum Schluss noch eine persönliche Frage. Sie wirken bei Ihren Auftritten auf Veranstaltungen und in Gesprächen sehr ausgeglichen, sehr harmonisch. Was ist Ihr Rezept, wie schöpfen Sie Kraft, Herr Kraft?
Wir sind ein Unternehmen, das sieben Tage die Woche 24 Stunden Betrieb gewährleistet – auch an Weihnachten, auch an Neujahr. Die vielen Mitarbeiter, die hier tätig sind, arbeiten auch an diesen Tagen, wo viele andere auch mal in Ruhe Kraft schöpfen oder sich mit der Familie zurückziehen. So ist es auch in meiner Position. Auch ich muss sieben Tage, 24 Stunden erreichbar und verfügbar sein. Das übliche Abschalten und Auftanken, zu sagen „dann bin ich am Wochenende mal in meinem Schrebergarten“, das funktioniert nicht. Klar ist es Stress, aber Sie müssen dies als positiven Stress sehen. Nur wenn man lernt, den Stress nicht als Belastung sondern als Herausforderung zu nehmen, und zwar als positive Herausforderung, kann man den Job überhaupt annehmen.
Herr Kraft, vielen Dank für das Gespräch.
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