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Anna-Theresa Korbutt: Den ÖPNV einfach machen

Anna-Theresa Korbutt; Quelle: HVV

Anna-Theresa Korbutt sieht das Deutschlandticket zusammen mit einer konsequenten Digitalisierung als große Chance für den ÖPNV, alles zu vereinfachen: den Vertrieb ebenso wie die eigenen Prozesse. Im Hamburger Verkehrsverbund hat sie dies schon umgesetzt.

Der Hamburger Verkehrsverbund bietet seit März ein Klimaticket an – ist dies eine Alternative zum Deutschlandticket?

Es ist eine Weiterentwicklung des Deutschlandtickets. Im HVV haben wir als erster Verkehrsverbund in Deutschland unser Portfolio ganz auf das Deutschlandticket ausgerichtet und gesagt: Wenn wir den ÖPNV einfach machen wollen, dann auch auf Tarifebene. Das Klimaticket ist ein Jobticket, bei dem sich ein Arbeitgeber für das Ticket für alle seine Beschäftigten entscheidet. Seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben dann die Wahl, ob sie den Arbeitgeberzuschuss für das Deutschlandticket verwenden oder für drei Ganztagesfreifahrten pro Monat. Damit ermöglichen wir auch Menschen, die bisher dem ÖPNV abgeneigt waren, einen einfachen Zugang – das ist wie eine Weinprobe, die Geschmack auf mehr macht.

Geht das Konzept auf?

Wir haben das Klimaticket schon 2023 mit einigen Unternehmen eingeführt, Airbus beispielsweise oder die Stadtreinigung Hamburg. Anhand der Daten sehen wir, dass das Konzept aufgeht, dass Beschäftigte tatsächlich von dem kleinen Klimaticket mit nur drei Ganztagesfahrten hin zum großen Klimaticket mit Deutschlandticket migrieren. Man muss den Menschen Zeit lassen und ihnen Einstiege in Veränderung anbieten. 

Wenn Sie jetzt auf über ein Jahr Deutschlandticket zurückblicken, wie ist ihre Bilanz?

Wir als HVV, zusammen mit unseren Aufgabenträgern, gehören zu denen, die das Deutschlandticket schätzen und lieben. Mit dem Ticket sind wir auf einem eindeutigen Erfolgskurs. Der HVV hat 1 Mio. Tickets ausgegeben, bei 3,6 Mio. Menschen im Verbundraum, für die das Deutschlandticket infrage kommt. Außerdem haben wir es geschafft, die bisherigen mehr als 150 verschiedenen Varianten eines HVV-Zeitabos abzuschaffen und das Deutschlandticket ausschließlich digital aufzustellen. Dadurch, dass das Ticket ein rein digitales Ticket ist, kann es innerhalb weniger Wochen verändert und erweitert werden. So konnte der HVV als bundesweit erster Verbund das Semesterticket als Deutschlandticket anbieten. Natürlich haben wir unseren Kunden damit einen Digitalschock verpasst und sie zusammen mit uns aus der Steinzeit herauskatapultiert. Doch letztendlich ist dies von unseren Kunden sehr positiv aufgenommen worden.

Die Finanzierung des Deutschlandtickets steht immer noch auf wackeligen Füßen. Wie sehen Sie das?

Ich bin hier entspannt. Rund um die Finanzierung gibt es einen langen Diskussionsprozess, den ich seit zwei Jahren begleite. Man hat bisher immer eine Lösung gefunden und ich gehe davon aus, dass man auch in Zukunft Lösungen finden wird. Natürlich ist dies anstrengend und man wiederholt sich oft. Doch in Fragen der Finanzierung des Deutschlandtickets müssen 16 Bundesländer plus die Bundesregierung zu einer Einigung kommen, und dies einstimmig. Ich bin überzeugt, dass am Ende der Diskussionen ein stimmiges Ergebnis stehen wird, mit dem alle arbeiten können.

Rein rechnerisch hat jeder Dritte im HVV-Verbund ein Deutschlandticket. Es können jedoch auch Menschen außerhalb des HVV bei Ihnen ein Ticket kaufen. Der HVV war sehr früh mit einer funktionierenden Webseite am Markt. Können Sie beziffern, wie hoch der Anteil von Kunden ist, die von außerhalb des HVV-Gebiets Deutschlandtickets gekauft haben?

Man wirft uns vor, dass wir beim Deutschlandticket massiv vertriebsaggressiv sind. Aber die Auswertung der Postleitzahlen zeigt, dass nur knapp 10 % unserer Deutschlandticket-Abonnenten eine Postleitzahl außerhalb des HVV-Gebiets haben. Natürlich könnte man sagen, 10 % von 1 Million ist immer noch viel. Doch die Überzahl an fremden Postleitzahlen kommt aus dem Jobticket- und nicht aus dem Pri-vatticket-Segment. Unternehmen, die bundesweit mehrere Standorte haben, konsolidieren mit dem Deutschlandticket ihre Jobticket-Verwaltung. Sie haben das Deutschlandticket und seine bundesweite Verwaltung in Ausschreibungen vergeben – mal haben wir gewonnen, mal andere Anbieter. Für diese Unternehmen bringt das neue bundesweite Ticket erhebliche Erleichterungen. Früher mussten sie die Jobtickets von vielen verschiedenen Verbünden kennen und verwalten, jetzt nur noch eines. Auch in dieser Hinsicht ist das Deutschlandticket ein Beispiel dafür, wie man ÖPNV einfacher machen kann. 

Verkehrsminister Volker Wissing hat einmal gesagt, wenn man den Vertrieb im ÖPNV komplett digitalisieren würde, könnte man pro Jahr 2 Mrd. EUR einsparen. Sie haben sich wiederholt für eine gemeinsame übergreifende Ticket-App ausgesprochen. Wo steht man heute?

Wir sind hier keinen Schritt weiter. Das liegt zum Teil an der Governance der ÖPNV-Branche. Der ÖPNV ist sowohl Ländersache als auch Sache der Aufgabenträger, als auch Sache der Kommunen. Es gibt über 100 Verkehrsverbünde und noch mehr Verkehrsunternehmen, alle mit eigener wirtschaftlicher Steuerung und mit eigener Governance. Das führt automatisch dazu, dass jeder seine eigenen Vertriebskanäle ausbaut. Mit dem Deutschlandticket haben wir zum ersten Mal ein bundesweit übergreifendes Produkt. Das hat jedoch bisher nur dazu geführt, dass an den neuen Vertriebsaktivitäten hierzu besonders viele IT- Firmen verdient haben, denn jeder baut seinen eigenen Vertriebskanal für das Deutschlandticket auf. Wirtschaftlich sinnvoll ist das nicht. Würde Ikea für jeden Standort ein eigenes Verkaufstool entwickeln? Ich weiß, der ÖPNV ist nicht Ikea und wir gehören nicht alle zu einer Firma. Doch mit dem Deutschlandticket haben wir erstmals ein gemeinsames Ticket und sollten deshalb auch gemeinsam handeln. Ein weiteres Argument, das Deutschlandticket aus der Vertriebsstruktur der einzelnen Verbünde herauszuziehen, ist auch, dass es das einzige Ticket ist, das direkt vom Bund mitfinanziert wird.

Verlieren die Verkehrsverbünde und Verkehrsunternehmen dann nicht ihre Identität?

Wenn ich von einer gemeinsamen App spreche, geht es mir nicht um die Darstellung nach außen, also um eine Vertriebs-App im engeren Sinne - diese könnte jeder Verbund beziehungsweise Verkehrsunternehmen individuell gestalten. Ich spreche vielmehr von dem Hintergrundsystem mit Kundenstammdaten und von dem hinterlegten Bezahlsystem. Wir brauchen ein gemeinsames System, das diese Hintergrundfunktionen für alle übernimmt und mandantenfähig ist, auch im Interesse unserer Fahrgäste. Augenblicklich können wir beispielsweise ein verloren gegangenes Deutschlandticket nicht ersetzen, wenn es nicht bei uns gekauft wurde. Den Kunden ist das schwer zu vermitteln. Doch im Augenblick kommen wir bundesweit in dieser Frage nicht weiter. Vielleicht muss auch hier ein Urknall passieren, wie das Deutschlandticket für den ÖPNV als Ganzes ein Urknall war.

Das Wesen der Digitalisierung ist ja gerade, dass man eine Softwarelösung skaliert, d. h. sie immer neuen Kunden anbietet und dadurch seinen Umsatz und Gewinn vervielfacht. Kleinstaaterei ist der Gegensatz von Skalierbarkeit und verschenkt einen der großen Vorteile von Digitalisierung. Wie haben Sie die Digitalisierungsfrage für den HVV gelöst – einen neuen Anbieter gesucht?

Wir haben tatsächlich das Deutschlandticket nicht auf dem seit Jahrzehnten bestehenden Hintergrundsystem des HVV aufgesetzt, sondern eine neue Software verwendet, die wir jedoch selbst entwickelt haben. Wir hatten mit der Switch App schon vor einigen Jahren eine moderne Vertriebsinfrastruktur aufgebaut, die jetzt nur noch um das Deutschlandticket erweitert wurde – wir haben also unsere eigene Software skaliert. Aufgrund der modernen Struktur dieser Anwendung brauchen wir nur noch vier bis sechs Wochen, um eine neue Vertriebs-App einzuführen. Wir hatten uns beim HVV im Dezember 2022 entschieden, das Deutschlandticket auf der Switch App aufzubauen und im April 2023 konnten wir die ersten Tickets verkaufen. Außerdem konnten wir den ganzen Jobticket Verkauf automatisieren, auch für unsere Kunden, die Arbeitgeber. Jetzt im März haben wir das Semesterticket über die App integriert.

Wenn Sie als HVV jetzt schon ein System haben, dass alle Funktionen erfüllt und sich betriebswirtschaftlich rechnet, würden Sie sich überhaupt noch in ein bundesweites System einbringen wollen? Oder ist Ihre Idee, dass sich alle dem HVV-System anschließen?

Ich weiß nicht einmal, ob unsere HVV-App bundesweit skalierbar wäre. Doch es geht mir ja nicht um eine bundesweit einheitliche Vertriebs-App, sondern darum, dass bundesweit in einer einzigen Datenbank, über eine eindeutige Identifikation, alle Kunden des Deutschlandtickets hinterlegt sind und dass alle Verkehrsverbünde auf diese Basis-Datenbank zugreifen können. Es ist nicht trivial, einfach zu sein. Es ist in unserer Branche leider nicht so, dass eine neue Herangehensweise mit Freude aufgenommen wird. Das Deutschlandticket gibt es jetzt seit über einem Jahr – ich habe gedacht, dass irgendwann der Punkt erreicht ist, ab dem alle mitgehen. Doch das ist leider nicht so.

Sie haben sich auf der Bitkom umgeschaut, der Messe der Digitalisierungsbranche. Was haben Sie für den ÖPNV mitgenommen?

Es ist wichtig, sich in anderen Branchen umzuschauen, um ein breiteres Verständnis zu gewinnen und neue Ideen entwickeln zu können. Es gibt allerdings ein großes Verständigungsproblem: Außerhalb des Sektors herrscht der Glaube, dass wir als ÖPNV als Ganzes die Daten konsolidiert und strukturiert, in einem auswertbaren Format, vorliegen haben. Auf diese ideal­typischen Daten hätte man gerne Zugriff, um darauf die verschiedensten Apps aufzubauen. Doch den Zugriff auf solche Daten haben wir als ÖPNV nicht einmal selbst. Bei der Diskussion um das Mobilitätsdatengesetz sprechen wir von Mobilitätsdaten, als wenn wir schon auf dem Weg zum Mars wären. Dabei haben wir noch nicht einmal mit dem Weg zum Mond begonnen.

Was wären denn Schritte, die gegangen werden müssten?

Wir müssten primär die Daten einsetzen, um unsere eigenen Prozessabläufe zu verbessern. Zum Beispiel sollten wir fragen, welcher Prozessschritt weggelassen werden könnte, weil es inzwischen Technologien gibt, die erlauben, diesen oder jenen Schritt zu überspringen. Wenn wir bei den eigenen Prozessen ansetzen, würden wir nicht nur eine höhere Qualität erreichen, sondern auch zu einer größeren Umsetzungsgeschwindigkeit kommen. In den historisch gewachsenen IT-Strukturen ist dies allerdings schwierig. Und uns fehlen leider die IT-Fachleute für diese Aufgaben.

Eine Grundidee von Verkehrsverbünden war der gemeinsame Vertrieb. Statt an jeder Stadt- oder Landkreisgrenze ein neues Ticket kaufen zu müssen, konnten die Fahrgäste in einem Verbund immer weitere Strecken fahren. Wenn jetzt mit dem Deutschlandticket eine andere Vertriebsstruktur kommt, stellt sich die Frage nach einer anderen Definition von Verbünden beziehungsweise der Frage, ob und wofür sie noch gebraucht werden.

Es muss immer Organisationseinheiten geben, die die Verkehre und den Vertrieb managen, egal, wie sie genannt werden. Planerische Kompetenzen müssen besetzt und koordiniert werden, es müssen Ausschreibungen gemacht werden. Doch ausgehend vom Deutschlandticket könnten wir als ÖPNV-Branche neu darüber nachdenken, wie diese Aufgaben am besten gebündelt und umgesetzt werden sollten. Genauso wie die Verkehrsverbünde mit ihrem gemeinsamen Vertrieb vor Jahren eine Revolution waren, haben wir jetzt mit dem Deutschlandticket nichts anderes als eine Revolution und letztendlich einen Verkehrsverbund auf bundesweiter Ebene. Meiner Ansicht nach wird es immer eine lokale Angebotsplanung für den Busbereich geben müssen, man sollte aber eine weitergreifende Planung für den SPNV haben, denn schon heute greifen die Verbundgrenzen im SPNV oft zu kurz.

Woher kommt die Veränderung?

Ich glaube nicht, dass wir als Verkehrsverbünde uns selbst abschaffen werden. Diese Frage wird unsere Branche nicht aus eigener Kraft lösen, das muss für uns gelöst werden. Mit dieser Ansicht stoße ich nicht auf große Gegenliebe. Doch frage ich mich, warum all das, was in Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft gelehrt wird, ausgerechnet für den ÖPNV nicht gelten soll.

Es gibt auch den Ansatz, dass Mobilität grundsätzlich reduziert werden sollte – das Klimaministerium in Österreich nennt dies beispielsweise als eines seiner Ziele. Was halten Sie davon?

Nichts. Mobilität ist eines der Grundbedürfnisse der Menschen. Mobilität schafft Offenheit für sozialen Austausch, für neue Kulturen, für Diversität. Kürzlich erzählte mir eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kinder bei einer Fahrgastveranstaltung, dass sie mit dem 9-Euro-Ticket zum ersten Mal in der Lage gewesen war, ihren Kindern die Nordsee zu zeigen. Soll ich ihr wirklich sagen: Bleiben Sie bitte zu Hause, wir müssen Fahrten vermeiden?

Wenn Sie sich die öffentliche Mobilität in Hamburg in 20 Jahren vorstellen, was sehen Sie?

Wir alle kennen die bunten Präsentationen zur Zukunft der Mobilität, mit Lufttaxis und autonom fahrenden Autos. Ich male keine bunten Bilder mehr, doch formuliere ich einige Wünsche. Ich wünsche mir, dass wir zukünftig Mobilität zusammen mit der Stadtentwicklung denken, also hin zu einer Stadt, in der wir alle leben wollen. Diese Stadt muss grüner sein, sie muss leiser sein, es muss Spaß machen, auf die Straße zu gehen. Zu dieser Stadt der Zukunft gehört auch der ÖPNV. Doch muss sich der ÖPNV öffnen und muss auch andere Verkehrsträger integrieren. Was ist, wenn ich einmal keine Lust habe, im strömenden Regen zu einer Haltestelle zu gehen und stattdessen lieber an diesem Tag mit einem Auto fahren will beziehungsweise der autonomen Einheit, die bis dahin entwickelt wurde? Ich möchte außerdem, dass unsere Haltestellen, Fahrzeuge und Servicestellen attraktiv sind und alle den ÖPNV ohne Hindernisse nutzen können, ob mit Kinderwagen oder Rollator.

Eine private Frage: Wie entspannen Sie sich?

Ich habe zwei kleine Kinder, bald drei - viel Freizeit bleibt da nicht. Doch gehe ich sehr gerne nach draußen in die Natur und liebe es, Urlaube zu planen. Vor der Geburt meiner Kinder bin ich viel gereist, ich war in der Antarktis und im Himalaya – solche Reisen werde ich wieder machen, wenn die Kinder größer sind.


Das Interview aus der Eisenbahntechnischen Rundschau führte Dagmar Rees

 

Artikel Redaktion Eurailpress
Artikel Redaktion Eurailpress