Anjes Tjarks: Ohne Schiene geht es nicht
Hamburgs Verkehrssenator Dr. Anjes Tjarks will die Mobilitätswende erlebbar machen. Änderungen sollen im Stadt- und Straßenbild eindeutig erkennbar sein. Die Schiene ist für Tjarks unverzichtbar, besonders auf den langen Strecken. In der Fläche geht es um digitalisierte Lösungen.
Wie sieht für Sie die ideale Aufteilung des Verkehrs in Hamburg aus?
Wir haben uns für den Modal Split in Hamburg bis 2030 klare Ziele gesetzt. Heute hat der Umweltverbund, bestehend aus ÖPNV, Fahrrad und Fußgängern, einen Anteil am Verkehr von 64 Prozent und das Auto, also der motorisierte Individualverkehr, von 36 Prozent. Dieses Verhältnis wollen wir bis 2030 in 80/20 ändern, also 80 Prozent Umweltverbund und 20 Prozent motorisierter Individualverkehr. Die Verkehrswende muss für Alle erlebbar sein.
Erlebbare Verkehrswende – das heißt, wenn ich in Hamburg aus dem Haus trete, sehe ich kaum noch Autos auf den Straßen, stattdessen Fahrräder und Fußgänger, und der ÖPNV fährt durchgehend, mit kaum noch Wartezeiten?
Das ist die Vision für 2030. Davon sind wir natürlich noch ein großes Stück entfernt, doch das Ziel ist erreichbar. Derzeit sanieren oder bauen wir 60 bis 80 Kilometer Radwege pro Jahr neu. Dadurch wird das Radwegenetz qualitativ besser, aber auch noch dichter – das wird stadtweit spürbar sein. Auch bei der Straßensanierung soll man die Verkehrswende spüren, mit breiten geschützten Radwegen, mehr Bäumen und weniger Parkplätzen an den Seitenrändern und mehr Stellplätzen für Fahrräder.
Rechnen Sie damit, dass sich aufgrund der Corona-Pandemie das Mobilitätsverhalten ändert - zurück zu mehr Individualverkehr?
Mit Corona hat sich das Mobilitätsverhalten kurzfristig dramatisch verändert – dieses veränderte Verhalten wird auch mittelfristig weiter zu spüren sein. Der größte Corona-Verlierer ist zwar der Flugverkehr, doch danach folgt aber leider der ÖPNV. Wir liegen in Hamburg augenblicklich bei einer Kapazitätsauslastung von 50 % . Doch auch der Autoverkehr ging zurück und lag während aller Lockdown-Monate nie über dem Vor-Pandemie Niveau. Der motorisierte Individualverkehr ist also auch kein Pandemie-Gewinner. Der eigentliche Gewinner ist der Radverkehr – hier registrieren wir ein Plus von 33 Prozent.
Es ist davon auszugehen, dass die Arbeit im Homeoffice auch nach der Pandemie akzeptiert ist – oft sind Varianten wie drei Tage im Büro, zwei Tage im Homeoffice zu hören. Bürgert sich dies ein, geht die Nutzung des ÖPNV um bis zu 40 Prozent zurück.
Wenn sich die Fünf-Tage-Woche im Büro in eine Drei-Tage-Woche wandelt, werden wir im ÖPNV sicher neue Preismodelle einführen müssen. Ich glaube allerdings nicht, dass wirklich alle Beschäftigten 20 bis 40 % ihrer Arbeitszeit im Homeoffice verbringen – dazu gibt es zu viele Arbeitsstellen, bei denen eine Präsenz vor Ort notwendig ist.
Wir werden Veränderungen nicht nur beim ÖPNV, sondern über alle Verkehrsträger hinweg spüren. Es wird insgesamt weniger Verkehr geben, nicht nur im Nah-, sondern auch im Fernverkehr. Online-Besprechungen, Online-Versammlungen und Online-Konferenzen werden uns auch nach dem Ende der Pandemie erhalten bleiben. Sie sind kostengünstiger, umweltschonender, erreichen mehr Menschen und sind nach dem Ereignis weiterhin abrufbar.
Sehen Sie die Notwendigkeit, den Nahverkehrsplan für Hamburg an ein geringeres Verkehrsaufkommen anzupassen?
Nein. Im Augenblick sind wir noch voll in der Pandemie – das heißt, wir müssen vor allem tagsüber den Fahrplan vollständig fahren, damit die notwendigen Abstände in den Fahrzeugen eingehalten werden können. Perspektivisch haben wir weiterhin das Ziel, den Öffentlichen Nahverkehr auszubauen. Ich bin davon überzeugt, dass wir die Menschen wieder für den ÖPNV gewinnen können. Voraussetzung hierfür ist allerdings eine umfassende Corona-Schutzimpfung der Bevölkerung.
Welchen Stellenwert haben für Sie schienenbasierte Mobilitätslösungen? Denken Sie als erstes an die Schiene, wenn es in Hamburg darum geht, ein Verkehrsproblem umweltschonend zu lösen?
Das kann ich so pauschal nicht beantworten. Doch wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen, wird es ohne die Schiene nicht gehen. Deshalb setzen wir in Hamburg in vielen Fällen auf die Schiene. Allein mit der neuen U5 werden wir jeden Tag 300 000 Fahrgäste befördern. In den kommenden 20 Jahren bauen wir im Stadtgebiet 36 neue S- und U-Bahnhöfe. Wir bauen die Schienen-Verbindungen ins Umland aus, beispielsweise mit der S4 nach Ahrensburg und Bad Oldesloe oder mit der S21 als Ersatz für die AKN nach Kaltenkirchen. Wir wollen die S32 nach Lurup und Osdorf vorantreiben und nach Schenefeld verlängern. Wenn wir es nicht schaffen, die Menschen auf den lang laufenden Verbindungen auf die Schiene zu bekommen, dann schaffen wir die Mobilitätswende nicht. Die Mobilitätswende wird im inneren Stadtgebiet gewollt, aber sie wird am Stadtrand und im Umland gewonnen: Zum einen durch die Schiene auf den langen Strecken, zum anderen durch elektrifizierte und automatisierte On-Demand Angebote in der Fläche.
Die On-Demand Angebote im Umland wären Zubringer zum ÖPNV, wie Sie es mit On-Demand Angeboten im Stadtgebiet schon erproben?
Im Stadtgebiet haben wir augenblicklich zwei Angebote: Ioki, ein reiner Zubringerverkehr zum ÖPNV, und Moia, ein Ridesharing-Angebot ohne Zubringerfunktion. Mit diesen neuen Mobilitätsformen werden wir weiter experimentieren. Es ist gut, mehrere Möglichkeiten zu haben, denn wir wissen heute noch nicht genau, wie die Mobilität von morgen aussehen wird. Nur eines ist gewiss: Wenn wir als Aufgabenträger die neuen Mobilitätsformen nicht selbst ausprobieren, machen das andere für uns – ohne dass wir sie dann in unserem Sinne gestalten können.
Hamburg hat sich gegen eine Stadtbahn entschieden. Gäbe es Umstände, unter denen doch wieder über eine neue oberirdische Schienenverbindung nachgedacht würde?
In Hamburg gibt es augenblicklich keine politische Mehrheit für eine Stadtbahn. Das heißt aber nicht, dass es nicht mittelfristig sinnvoll ist, wieder über die Stadtbahn nachzudenken. Doch haben wir auch ohne eine Stadtbahn in Bezug auf den schienengebundenen Verkehr ein milliardenschweres Bauprogramm vor uns.
Die Kapazitäten auf der Schiene in Hamburg sind begrenzt, für den Nah- wie für den Fernverkehr. Wie weit ist hier die Abstimmung mit dem Bund und der DB, auch im Rahmen des Deutschlandtaktes, um Abhilfe zu schaffen?
Der große Vorteil des Deutschlandtaktes ist, dass wir in Deutschland zum ersten Mal definieren, welche Kapazitäten wir erreichen wollen, und anhand dieser Ziele die Infrastruktur ausbauen. Das führt dazu, dass darüber nachgedacht wird, wie die Engpässe in den Knoten, zu denen auch Hamburg zählt, aufgelöst werden können.
Die Freie Hansestadt Hamburg begrüßt sehr, dass der Bund erkannt hat, dass wir hier in Hamburg einen Kapazitätsengpass haben. Wir untersuchen beispielsweise gemeinsam die Möglichkeiten eines Verbindungsbahn-Entlastungstunnels zwischen Hamburg Hauptbahnhof sowie Dammtor und Altona, der zwei zusätzliche Gleise schaffen würde.
Nicht nur zwischen Hauptbahnhof und Dammtor/Altona gibt es Engpässe, auch der Hauptbahnhof selbst ist ein Problem. Welche zeitlichen Perspektiven gibt es für den Hauptbahnhof?
Der Hauptbahnhof ist ein Mammutprojekt. Ich rechne damit, dass immer wieder neue Module hinzukommen werden und uns deshalb der Hamburger Hauptbahnhof bis ins Jahr 2040 beschäftigen wird. Die gute Nachricht ist, dass die zusätzlichen Treppenaufgänge 2021 wie geplant fertiggestellt werden.
Der Güterumschlag im Hamburger Hafen ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Welche Ziele verfolgen Sie im Hinblick auf eine weitere Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene?
Hamburg hat in den vergangenen 10 Jahren den Modal Split der Schiene deutlich gesteigert. 13 % aller Güterzüge in Deutschland beginnen oder enden im Hamburger Hafen. Unser Ziel ist es, diese Entwicklung fortzusetzen. Wir investieren deshalb sehr stark in die Hafenbahn und setzen uns für Baumaßnahmen ein, die mehr Kapazität für den Güterverkehr schaffen, zum Beispiel die Umfahrung Maschen oder das Kreuzungsbauwerk Wilhelmsburg.
Worum geht es beim Kreuzungsbauwerk Wilhelmsburg?
Der Hafen Hamburg liegt im westlichen Stadtgebiet, Maschen südöstlich des Hafens, dazwischen verläuft die Nord-Süd-Verbindung von Hamburg Hauptbahnhof nach Hamburg Harburg. Die Frage ist, wie Güterzüge vom Hamburger Hafen nach Maschen kommen können, ohne dass sie jedes einzelne Gleis der Nord-Südverbindung Hamburg HBF – Hamburg Harburg kreuzen müssen, denn dies bindet erhebliche Kapazität, besonders im Personenfernverkehr. Die Antwort ist ein Güterzug-Tunnel in Wilhelmsburg, rund 500 m lang, damit die Züge die Trassen kreuzungsfrei queren können.
Im Herbst soll in Hamburg der ITS Weltkongress stattfinden. Steht dieser noch wie ursprünglich geplant auf der Agenda oder gibt es Corona-Anpassungen?
Ja, der Plan steht noch. Eine endgültige Entscheidung wird sicher im Juni fallen. Wir gehen aber Stand heute davon aus, dass wir den Kongress als Präsenzveranstaltung durchführen können.
ITS steht für Intelligente Transportsysteme. Wenn Sie in die Zukunft blicken: Wie sieht für Sie ein Verkehrssystem in Hamburg aus, das die Möglichkeiten der Digitalisierung und Automatisierung optimal nutzt?
Wir sind sehr stolz darauf, dass in Hamburg die erste digital gesteuerte S-Bahn der Digitalen Schiene Deutschland in den Fahrgastbetrieb gehen wird. Ab Oktober 2021 werden zwischen Berliner Tor und Bergedorf/Aumühle vier Züge der S21 hochautomatisiert fahren. Ein Triebfahrzeugführer ist dann zwar immer noch an Bord, doch der Betrieb, also Anfahren, Beschleunigen, Bremsen und Halten, wird automatisch über ATO (Automatic Train Operation) gesteuert.
Die Bereitstellung der Züge in Bergedorf erfolgt sogar vollautomatisch. Dieses System präsentieren wir auf dem IST Weltkongress. Es soll der Ausgangspunkt einer kompletten Digitalisierung des Hamburger S-Bahn Netzes sein. Diese benötigen wird dringend. In den kommenden Jahren bekommen wir in Hamburg mit der S4 und der S21 zwei weitere große S-Bahn-Linien hinzu. Dies bedeutet, dass wir 30 Prozent mehr Kapazität im City-Bereich haben werden. Die Digitalisierung ist eine wichtige Voraussetzung dafür, diese Verdichtung betriebsstabil fahren zu können. Das heißt, wir bauen zusätzliche Infrastruktur und brauchen gleichzeitig die Digitalisierung, um die zusätzlichen Fahrgastmengen abwickeln zu können.
Ein weiteres ITS-Thema ist HVV-Switch, die Mobility-as-a-Service-Plattform, die alle Verkehrsangebote der Stadt bündelt, also sowohl die Angebote des Hamburger Verkehrsverbundes als auch die neuen Mobilitätsangebote. Dieses Angebot für alle, die kein eigenes Auto haben beziehungsweise dieses abschaffen wollen, werden wir mit einem Check-in/Check-out-System kombinieren, bei dem die Fahrgäste die Komplexität eines vielfältigen Tarifsystems vergessen können, weil alles über eine einzige Plattform digital abgerechnet wird.
Die komplette Digitalisierung des Hamburger S-Bahn-Netzes ist ein großes Vorhaben. Wer trägt die Kosten und gibt es schon einen Zeitplan?
Es gibt noch keinen Zeitplan. Augenblicklich läuft noch eine Machbarkeitsstudie, die bald beendet sein wird. Die Stadt Hamburg ist bereit, sich für die Digitalisierung zu engagieren und hat dies auch schon unter Beweis gestellt. Zusammen mit den Projektpartnern Deutsche Bahn und Siemens hat die Stadt Hamburg über 60 Mio. EUR dafür ausgegeben, die Strecke nach Bergedorf zu automatisieren und für den automatischen Betrieb vier Fahrzeuge umzurüsten. Wir werden in Kürze weitere Fahrzeuge für die S4 und S21 bestellen, die schon für ATO vorgerüstet sind. Zusammen mit der Deutschen Bahn werden wir auf Basis der Machbarkeitsstudie auf den Bund zugehen, um darüber zu reden, wie das ATO-System für das gesamte Hamburger S-Bahn-Netz ausgerollt werden kann. Die S-Bahn-Infrastruktur in Hamburg ist alt – natürlich erwarten wir, dass der Bund das Netz, das ihm gehört, technisch in einen Zustand bringt, auf dem ein automatisierter Betrieb umgesetzt werden kann.
In Hamburg-Moorburg soll eines der größten Wasserstoff-Werke Europas gebaut werden – haben Sie ein Wasserstoffkonzept für den Verkehr?
Für die Busflotte der Hamburger Hochbahn beobachten wir die Entwicklungen bei Wasserstoff- wie auch Elektroantrieben; jeder hat Vor- und Nachteile. Wir setzen schon einige Wasserstoff- und rund 200 Elektrobusse ein. Elektrobusse sind serienreif und wesentlich günstiger als Wasserstoffbusse; die garantierte Reichweite beträgt jedoch nur 150 km. Hiermit können wir nur 50% unserer Umläufe abdecken.
Wasserstoffbusse haben eine wesentlich größere Reichweite. In diesem Zusammenhang wird dann auch die Wasserstoffproduktion in Hamburg eine Rolle spielen. Wir betrachten auch das Thema Fähren mit Blick auf den Einsatz von Wasserstoff aufmerksam. Da wir als Behörde keine Zugflotte betreiben, die nicht elektrisch ist, sind alternative Antriebe für uns hier kein Thema.
Was hat sich für Sie persönlich durch die Corona-Pandemie geändert?
Augenblicklich bin ich in der Regel fünf Tage die Woche im Homeoffice. Ich verstehe jeden, der diese Art zu arbeiten anstrengend findet, doch für mich selbst sehe ich durchaus auch viele Vorteile. Ich verbringe viel Zeit mit meinen Kindern und wir merken als Familie, dass wir uns mögen.
Das Interview aus der Eisenbahntechnischen Rundschau 6/2021 führten Manuel Bosch und Dagmar Rees.