Andre Rodenbeck: Diplomat und Anwalt für die Bahnindustrie
Der neue VDB-Präsident Andre Rodenbeck sieht die Bahnindustrie in einer Schlüsselrolle bei der Gestaltung einer emissionsfreien Mobilität ‒ auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten.
Herr Rodenbeck, Sie sind kürzlich zum neuen VDB-Präsidenten gewählt worden. Welche Schwerpunkte möchten Sie in Ihrem Amt zu diesen bewegten Zeiten für die Bahnindustrie in Deutschland setzen?
Die Schiene kann und muss Vorreiter sein für klimafreundliche, sichere und digitale Mobilität der Zukunft in und aus Europa. Aus dieser persönlichen Überzeugung heraus möchte ich mich als vorderster Diplomat und Anwalt für unsere Industrie einsetzen und einen kraftvollen Neustart aus der Corona-Krise unterstützen.
Wenn der Verkehrssektor nicht weiterhin meilenweit an den Klimazielen vorbeifahren soll, müssen wir jetzt den Kurs wechseln. Mit dem Masterplan Schienenverkehr wurde ein ambitioniertes Modernisierungsprogramm auf den Weg gebracht. Dazu zählen die Digitalisierung, die Förderung alternativer Antriebe sowie der Markthochlauf für Innovationen.
Bei der Digitalisierung der Schiene wollen wir Weltmarktführer werden. Entscheidend für den Erfolg sind jetzt eine schnelle Umsetzung und die Kooperation aller Beteiligten. Dazu zählen Bahnindustrie, Politik, Deutsche Bahn, Eisenbahn-Bundesamt und Aufgabenträger.
Der VDB hat das Konjunkturpaket der Bundesregierung begrüßt. Welche Chancen ergeben sich daraus für die Bahnindustrie und welche Punkte fehlen Ihnen eventuell auch noch?
Das Konjunkturpaket und der Nachtragshaushalt der Bundesregierung haben einen kräftigen Schub für nachhaltiges Wachstum auf der Schiene gegeben. Jetzt ist die Zeit, die Mobilität von morgen zu gestalten: Digitalisierung, Elektrifizierung, automatisiertes Fahren – es ist ein fantastisches Portfolio. Jetzt ist der Zeitpunkt, in die Modernisierung des Rolling Stock und eine beschleunigte Digitalisierung der Inrastruktur zu investieren. Mit Schiene 4.0 haben wir einen starken Wachstums- und Klimahebel. Dabei muss es auf die besten Lösungen ankommen, nicht auf die billigsten. Deshalb sollten die Wirtschaftshilfen an klimafreundliche und europäische Beschaffung geknüpft werden. So kann die Bahnindustrie als resiliente Klimaindustrie in Europa gestärkt werden.
Der VDB fordert auch Veränderungen bei den Ausschreibungen.
Richtig. Wir sind der Meinung, dass Zukunftsinvestitionen aus einem staatlichen Konjunkturpaket unbedingt Effekte mit höchstem Kosten-Nutzen-Verhältnis für Klima, Wirtschaft und Steuerzahler entfalten müssen. Wichtig ist, dass wir von der Beurteilung eines Angebots rein nach dem Anschaffungspreis wegkommen. Deshalb wünschen wir uns, dass bei Ausschreibungen ein Klima-Bonus eingeführt wird. Öffentliche Vergaben müssen wesentlich stärkere Impulse für Innovation und europäische Wertschöpfung geben. Lebenszykluskosten, Preis-Leistungs-Verhältnis und Nachhaltigkeit müssen Vergaben entscheiden. Ich würde mir zudem wünschen, dass bei europäischen Vergaben „Made in Europe“ stärker honoriert wird, insbesondere bei Projekten, die mit EU-Geldern finanziert werden. Dafür ist nicht einmal eine Gesetzesänderung nötig. Kriterien für diesen Kulturwandel sieht das europäische Vergaberecht bereits vor. Was fehlt, ist die konsequente Implementierung.
Wie erging es der Bahnindustrie in der Corona-Krise?
Unter strikten Gesundheitsschutzauflagen hat die Bahnindustrie in Deutschland, trotz der Stilllegungen von Produktionen in anderen Teilen der Welt, alles darangesetzt, Werke nicht generell zu schließen. Viele Beschäftigte setzen sich seit Monaten in dieser Ausnahmesituation mit großem Engagement dafür ein, dass wichtige Ersatzteillieferungen sowie Wartung und Instandsetzung der Flotten stabil bleiben. Damit bleibt die Mobilität für die Gesellschaft gesichert. Doch die Krise hat schwere wirtschaftliche Auswirkungen, vor allem mittelfristig. Die Bahnindustrie bildet da keine Ausnahme. Mit dem Konjunkturpaket und dem zweiten Nachtragshaushalt setzt die Bundesregierung die richtigen Impulse für nachhaltiges Wachstum auf dem Heimatmarkt. Doch als globalisierte Industrie erzielt die hiesige Bahnindustrie mit dem Exportgeschäft über 40 Prozent ihres Umsatzes. Die Auftragsperspektiven im Ausland sind teilweise schwierig, weil öffentliche Investitionen zurückgefahren oder verschoben werden.
Was bedeutet es für eine Branche, wenn die InnoTrans als wichtigste Messe kurzfristig um ein halbes Jahr verschoben wird?
Für den globalen Branchenüberblick, Geschäftsanbahnungen und Kundenpflege brauchen wir die Messe, keine Frage. Die InnoTrans als Welt-Leitmesse in Berlin zeigt eindrucksvoll die Leistungskraft der internationalen Bahnindustrie. Wir sind froh, mit dem neuen Termin vom 27. bis 30. April 2021 eine gute Alternative gefunden zu haben. Damit haben wir Planungssicherheit für die Aussteller geschaffen. Die Branche hat, naturgemäß nach jetzigem Stand, den neuen Termin außerordentlich gut angenommen, es gibt enorm hohes Interesse aus aller Welt und kaum Absagen. Damit können wir im April 2021 zeigen, was die Bahnindustrie an Innovationen zu bieten hat für die Mobilität der Zukunft.
Eine Leitmesse gibt immer auch den Rhythmus für eine Branche vor. Innovationen werden auf den Termin der Messe hin entwickelt. Ist durch die Verschiebung damit zu rechnen, dass Auftragslücken entstehen?
Eher nicht. Zumal es eine starke digitale InnoTrans-Plattform geben wird – so zusagen als virtuelle Leitmesse. Clean Mobility wird global wachsend gebraucht und deshalb weiterhin starke Nachfrage finden. Mit Auftragsdämpfern rechne ich, weil in einigen Ländern die Finanzierung von Bahnprojekten nicht leichter geworden ist. Gerade jetzt in die Zukunft investieren – diese Überzeugung sowohl von Wirtschaftsminister Peter Altmaier als auch Verkehrsminister Andreas Scheuer teile ich sehr. Beide Minister haben die Bahnindustrie ja als systemrelevant gewürdigt. Der politische Wille ist da, zusammen mit der Bahnindustrie konjunkturell durchzustarten. Und an Innovationen arbeitet die Branche ohnehin kontinuierlich.
Sicher wird durch die Pandemieerfahrung auf der nächsten InnoTrans auch das Thema Sicherheit noch stärker in den Mittelpunkt rücken. Das ist gut so, denn mit Aufklärung, Informationen und Innovationen kann man den gesunkenen Fahrgastzahlen im ÖPNV am besten entgegenwirken. Ein Beispiel: Über Sensoren lässt sich die Auslastung der einzelnen Zugwagen in Echtzeit ermitteln. Die Fahrgäste können so bereits am Bahnsteig über die Fahrzeugbelegung informiert werden und sich besser auf die Abteile verteilen, um Mindestabstände einhalten zu können.
Ein langfristiger Fahrgasteinbruch würde sich erheblich auf die Wirtschaftlichkeit auswirken.
Um das Vertrauen der Fahrgäste zu stärken, müssen Lösungen für den Gesundheitsschutz genutzt und auch neue entwickelt werden. Und es müssen politische Entscheidungen getroffen werden, die langfristig öffentlichen Verkehr ermöglichen. Es kann nicht sein, dass wir um Jahrzehnte zurückfallen und zukünftig alle wieder allein im Auto fahren. Der Klimaschutz bleibt ja, natürlich im sicheren Rahmen, weiter vorrangig.
Welche Ergebnisse erwarten Sie wirtschaftlich für die Branche 2020?
Insgesamt gesehen waren Produktion und Lieferketten auch in der Krise ausgesprochen stabil. Wir haben uns als „Rückgrat“ der Industrie bewährt. Die Bahnindustrie ist jedoch nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Hier appellieren wir an die Politik, die mittelständischen Unternehmen bei Corona-bedingten Hilfen ausreichend zu berücksichtigen.
Deutschland und die EU stellen hohe Summen bereit, um die Wirtschaft zu stützen und die Auswirkungen der Corona-Krise abzuschwächen. Andere Länder, die seit einigen Jahren begonnen haben, in Bahninfrastruktur zu investieren, haben eine geringere Wirtschaftskraft, Indien beispielsweise. Rechnen Sie damit, dass hier nicht nur kurz-, sondern auch mittelfristig die Aufträge für die Bahnindustrie in Deutschland zurückgehen?
Für die Bahnindustrie in Deutschland ist Europa ein zentraler Absatzmarkt. Hier sehen wir noch keine Tendenzen, dass Aufträge, die bereits platziert wurden, storniert werden. Wie es ab dem Jahr 2021 weitergeht, bleibt zu beobachten. Die Rettungsschirme und der klare Kurs für Klimaschutz in Berlin und Brüssel sind sehr ermutigend. Dagegen droht sich der globale Export in der Tat einzutrüben. Da gibt es nichts schönzureden. Rund 57 Prozent unserer Unternehmen verzeichnen seit Beginn der Krise im März 2020 eine angespanntere Exportlage und erste Veränderungen im ausländischen Auftragseingang.
Mir macht das vor allem für 2021 Sorge. Denn in der beispiellosen weltweiten Wirtschaftskrise können Bahnprojekte zur Disposition stehen. Das würde uns heftig treffen. Umso wichtiger ist ein ambitioniertes Paket in Europa. Klimaschutz durch intelligente Mobilität weist gerade jetzt den Weg in die Zukunft.
Hier dürfte der Bahnindustrie zugutekommen, dass die Investitionen sehr langfristig angelegt sind – im Gegensatz zur Autoindustrie.
Es stimmt, dass die Planung von Investitionsgütern in der Regel längerfristig angelegt ist. Darüber hinaus ist allen bewusst, dass ein wirtschaftlicher Hochlauf eine starke Infrastruktur braucht. Die Schiene ist für Wirtschaft und Gesellschaft von zentraler Bedeutung, sie ist ein echter Mobilitätsgarant. Zudem hat die Corona-Krise am eigenen Leib erfahrbar gemacht, wie eine Welt sein kann, in der Städte nicht von Autos verstopft sind und der Himmel nicht von lauten Flugzeugen durchzogen.
Doch die Tendenz hin zum Individualverkehr war in der Krise für einige Wochen Realität.
Ich bin mir sicher, dass das Bewusstsein dafür, dass die Schiene das zuverlässigste und sauberste Verkehrsmittel ist, auch nach der Corona-Krise das Mobilitätsverhalten prägen wird. Eine klimapolitische Rolle rückwärts würden die Menschen nicht akzeptieren. Man sollte dabei die Verkehrsträger Straße und Schiene nicht als Oppositionspaar verstehen. Es geht bei der Mobilität von morgen um eine effiziente und umweltschonende Verknüpfung verschiedener Verkehrsträger, wobei die Schiene eine zentrale Rolle spielen muss.
Um die Verkehrsverlagerung auf die Schiene voranzubringen, hat der VDB einen schnelleren Rollout von ETCS vorgeschlagen – wichtige Schritte sollen früher als von der Bundesregierung geplant umgesetzt werden. Wie ist hier die Situation?
Lassen Sie mich kurz vorwegschicken, dass der VDB seit Jahren die europäische Initiative Shift2Rail unterstützt, bei der es auch um die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene geht. Aktuell arbeitet der Verband sehr gut mit der Bundesregierung zusammen. Wir haben ein Konzeptpapier vorgelegt über die notwendigen Schritte, verbunden mit einem Zeitplan. Wir sind konstant im Austausch mit Politik und Aufgabenträgern. Jetzt gerade bei ETCS zu sparen, wäre das falsche Signal. Das Konjunkturpaket sieht, durch den Nachtragshaushalt finanziell hinterlegt, das Vorziehen von Investitionen in die digitale Infrastruktur vor. Deutschland muss im europäischen Schienennetz wettbewerbsfähig und interoperabel bleiben. Und für die Menschen würde der Modernisierungsschub im Alltag schnell erlebbar: mehr Qualität, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. Je attraktiver Zugfahren wird, desto mehr Menschen werden die klimaschonende Schiene aus Überzeugung wählen. Nur so funktioniert ehrgeiziger, angebotsorientierter Klimaschutz.
Eine der Forderungen des VDB bezog sich auch auf die Förderung der Schienenforschung. Wie beurteilen Sie die eingeleiteten Maßnahmen?
Wir begrüßen die Einrichtung des Zentrums für Schienenverkehrsforschung in Dresden und fordern für das Bundesforschungsprogramm Schiene 100 Millionen Euro pro Jahr an Fördermitteln. Wir sind auch bereit, unseren Beitrag zu leisten. Zusätzlich sieht das Konjunkturpaket eine Förderung von Zukunftsinvestitionen der Fahrzeughersteller und der Zulieferindustrie für die Jahre 2020 und 2021 vor. Ein Bonus-Programm soll regionale Innovationscluster stäken und Investitionen in Forschungs- und Entwicklungsprojekte für digitale Transformationen begünstigen. Es ist auch eine außerordentlich wichtige Chance für die Bahnindustrie, die Digitalisierung in einem 360-Grad-Ansatz massiv voranzutreiben, von automatischem Betrieb über vorausschauende Wartung bis zur smarten Fabrik. Diese Chance wollen wir nutzen.
Die Corona-Krise, die wichtige Lieferketten unterbrochen hat, hat die Grenzen der Globalisierung gezeigt. Deutet sich ein Umdenken in der Wirtschaftspolitik an, die Ausschreibungen mit „Made in Europe“-Bonus wahrscheinlicher machen?
Peter Altmaier versicherte ja auch öffentlich eindrucksvoll, dass eine starke Bahnindustrie wichtig für den Standort Deutschland ist – in und nach der Corona-Krise. Jetzt geht es darum, zur Stärkung von Produktion, Arbeitsplätzen und Innovationskraft mit dem Label „Made in Germany“ eine strategische Basis für Klimaindustrien zu schaffen. Dazu zählt die Bahnbranche zweifelsohne. Wir haben doch eine großartige Mission: Klimaschutz in und aus Europa. Bis Ende 2021 können wir beeindruckende Fortschritte realisieren – worauf warten wir?
Eine private Frage: Wie entspannen Sie sich?
Ich bin ein Familienmensch und genieße meine freie Zeit vor allem mit meiner Frau und meinen zwei Töchtern. Zudem treibe ich leidenschaftlich gerne Sport. Meine sportlichen Aktivitäten versuche ich in meinen Alltag am Abend zu integrieren.
Das Interview aus Eisenbahntechnische Rundschau 9/2020 führte Dagmar Rees.