Infrastruktur & Ausrüstung

Kay Mitusch: Lärmminderung ist entscheidend

Prof. Dr. Kay Mitusch; Quelle: KIT

Prof. Dr. Kay Mitusch betrachtet den Sektor Schiene als Ökonom. Der Leiter des Instituts für Netzwerkökonomie des KIT ist überzeugt: Um zu wachsen, muss die Schiene leiser werden.

Vor kurzem hörte ich Sie in einem Vortrag fragen: Soll Schienenlärm der Sound der Verkehrswende sein? Sie sehen den Lärm als begrenzenden Faktor für das Wachstum des Schienenverkehrs?

Sehr viele Schienenausbauvorhaben treffen heute auf den Widerstand der Bevölkerung. Der Hauptgrund ist der Lärm. Der Lärm sägt auch an dem Imagevorsprung, den die Bahn augenblicklich gegenüber dem Straßenverkehr hat.

Im Schienensektor selbst scheint man darauf zu hoffen, dass der Klimavorteil der Schiene so eindeutig ist, dass der Lärm nicht mehr eine so große Rolle spielt.

Die Schiene profitiert von der Klimapolitik. Zwar ist dies meines Erachtens eine Fehlwahrnehmung, denn Klimapolitik hat weniger mit Eisenbahn zu tun als man gemeinhin annimmt. Dennoch: Die Bahn wird für den Klimaschutz gebraucht. Doch Klimapolitik ist nur ein Aspekt der Verkehrswende. Verkehrswende beinhaltet auch, dass alles moderner, schicker, kleiner werden soll – und leiser. Elektrische Fahrzeuge wie E-Autos oder E-Scooter sind genau das: leiser. Krachmachende Ungetüme wie laute Schienenfahrzeuge, ratternde Wagen und quietschende Straßenbahnen passen nicht zum Bild, das man sich von moderner Mobilitätstechnologie macht. Der Sektor muss akzeptieren, dass die Bahn nicht nur für die Fahrgäste da ist, sondern auch für die Menschen, die an Bahnstrecken leben. Das wird oft übersehen.

Was müsste die Schiene tun, um besser zum Bild der Verkehrswende zu passen?

Das Lärmthema ist entscheidend. Grundsätzlich gilt: Es kann nicht sein, dass alle anderen Verkehrsmittel angenehm und ansprechend werden und sich bei dem System Schiene und den Schienenfahrzeugen nichts tut. Wenn es dem Schienensektor gelingen würde, leise und auch schicke Fahrzeuge zu entwickeln, würde dies viel mehr in das Bild der Verkehrswende passen.

Für den Güterverkehr haben Sie vorgeschlagen, dass es ein Europa der zwei Geschwindigkeiten geben könnte, dass also im Kernnetz in Mitteleuropa alles dafür getan werden müsste, leiser zu werden, z. B. durch Scheibenbremsen, während man in den Randgebieten, die nicht so stark besiedelt sind, einfachere und technisch weniger aufwändige Lösungen finden könnte.

Es gibt in der Mitte Europas in Nord-Süd-Richtung einen Gürtel mit hoher Bevölkerungsdichte und starker Konzentration der Wirtschaftskraft. Am Nordrand dieses Gürtels liegen die großen Häfen. Durch genau diesen Gürtel müssen sehr viele Züge fahren, im Personen- wie im Güterverkehr. Weil dieser Gürtel so dicht besiedelt ist, stören laute Züge die Menschen, die hier wohnen. Im ganzen Rest der Fläche Europas spielt das Lärmproblem eine wesentlich geringere Rolle – dort ist die Bevölkerungsdichte niedriger und auch weniger Verkehr unterwegs. Deshalb liegt der Gedanke nahe, den Faktor Lärm unterschiedlich zu behandeln und beispielsweise zusammen mit der Digitalen Automatischen Kupplung (DAK) im Kerngebiet auch die leiseren Scheibenbremsen einzuführen.

Eigentlich versucht doch die EU im Sektor Schiene gerade alles, um die unterschiedlichen Standards abzuschaffen, Stichwort: Einheitlicher Europäischer Eisenbahnraum. Und jetzt soll gerade bei einem Modernisierungsprojekt wieder mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten gehandelt werden.

Augenblicklich sind Güterwagen europaweit „super-interoperabel“ – jeder Güterwagen kann mit einem anderen verkuppelt werden. Diese freie Kombinierbarkeit haben wir sonst nirgendwo im Eisenbahnwesen. Dummerweise beruht sie aber auf einer technologischen Basis, die komplett irrelevant geworden ist, nämlich dem Kuppeln von Hand. Dreh- und Angelpunkt des modernen Güterwagens ist die Digitale Automatische Kupplung. Sie muss eingeführt werden. Doch die Länder in den Randgebieten haben einen Interessenskonflikt. Einerseits wollen sie zurecht dabei sein bei der Modernisierung des Verkehrs. Andererseits verzögern sie aber auch gerne, weil sie nicht die gleiche dringende Notwendigkeit sehen wie die Länder im Kerngebiet. Deshalb kann es notwendig werden, sich im ersten Schritt nur für eine Umsetzung im Kerngebiet zu entscheiden. Ein Zögern der Randgebiete darf nicht zum Stopp des gesamten Projektes führen. Die Kerngebiete hätten auch ein gemeinsames Interesse, weiter in Richtung leiserer Bremsen zu gehen. Das müssten sie auch, denn die Automatische Kupplung macht den Verkehr noch einmal lauter, weil es Klack-Geräusche durch die Kupplungen gibt – das müsste an anderer Stelle wieder ausgeglichen werden. Wenn man DAK und Scheibenbremse gemeinsam umsetzen könnte, hätte man ein Verkehrssystem, das deutlich leiser und deutlich flexibler wäre als heute.

... aber nicht mehr frei kombinierbar.

Wenn wir viel Zeit hätten, dann würden wir erst einmal die DAK umsetzen, um die Basis zu schaffen für weitere Entwicklungen. Beispielsweise könnte man Telematik nutzen, um Güterwagen des Kerngebiets von solchen der Peripherie abzugrenzen und im Betrieb auseinanderzuhalten.

Die Umstellung auf die DAK soll zwischen 5 und 8 Mrd. EUR kosten. Wer sollte aus Ökonomen-Sicht dafür aufkommen – der „Markt“, also die Unternehmen, oder die Staaten?

Die Umstellung auf die DAK muss von den Mitgliedsstaaten und der EU gefördert werden. Die DAK stellt einen grundlegenden Technologiewechsel dar, der schnell umgesetzt werden muss und Unternehmen nicht in die Insolvenz treiben darf. Für eine schnelle Einführung wäre es notwendig, ein kompaktes Förderprogramm aufzusetzen, das genau alle Spezifikationen festlegt und auf jeden Fall vorsieht, dass eine Erweiterung der Funktionen, beispielsweise hin zu stromgesteuerten und leiseren Bremsen, schnell und kostengünstig möglich ist. Wenn die grundsätzliche Umstellung erfolgt ist, kann sich der Staat wieder aus der Förderung von Güterwagen zurückziehen.

Förderung von Fahrzeugen ist ja ganz in Ihrem Sinne. An anderer Stelle sagten Sie, der Staat solle weniger in Infrastruktur und mehr in Fahrzeuge investieren. Uns als Eisenbahner schreckt so eine Aussage, denn für Eisenbahner ist Infrastruktur die Grundlage von allem.

Infrastruktur wird gebraucht. Dennoch gilt, dass die Infrastruktur bei der Eisenbahn einen viel höheren Kostenanteil ausmacht als beim Straßenverkehr und bei der Luftfahrt. Aus ökonomischer Sicht ist dies ein genereller Wettbewerbsnachteil des Systems Bahn.

Bei Infrastruktur gibt es in der Regel wenig Wettbewerb. Infrastruktur ist nicht nur teuer, sondern auch langlebig. Es gibt nicht so viel Entwicklungsdynamik wie bei Fahrzeugen. Wir sehen es doch tagtäglich auf den Straßen: Der Lkw hat sich stetig modernisiert, ist immer leistungsfähiger geworden, ohne dabei teurer zu werden, und hat fast alle Umweltprobleme technisch in den Griff bekommen – bis auf das CO2-Problem, doch auch hier zeichnen sich mit Elektrooder Wasserstoff-Lkw schon erste Lösungen ab.

Ökonomisch gilt: Wenn man die Wahl hat, einen Effekt zu gleichen Kosten über Infrastruktur oder über Fahrzeuge zu erreichen, dann sollte man in Fahrzeuge investieren. Auch wenn die Fahrzeuge 10 % teurer sind, sollte man ebenfalls in die Fahrzeuge Investieren. Erst wenn es 60 % teurer wird, dann muss man es bei der Infrastruktur umsetzen. Der große energetische Vorteil der Eisenbahn beruht auf dem Rad-Schiene-Kontakt, also der Infrastruktur. Könnten Sie an einem Beispiel verdeutlichen, wo in die Fahrzeuge statt in die Infrastruktur zu investieren die bessere Lösung wäre? Auch der Lärm entsteht durch den Rad-Schiene-Kontakt, gelegentlich auch durch die Ladung oder die Aufbauten. Um die Bevölkerung vor Lärm zu schützen, kann man gewaltige Lärmschutzwände bauen oder sich für einen Tunnel entscheiden, wo eigentlich kein Tunnel notwendig wäre. Das wären jedoch Fehlentscheidungen, denn der Lärm könnte effektiver an der Quelle, also an den Fahrzeugen, bekämpft werden. Leider werden strukturbedingt eher Lärmschutzwände gebaut als fahrzeugbasierte Maßnahmen ergriffen.

Warum?

Der Bund hat als Eigner von DB Netz Zugriff auf die Infrastruktur. EU-Beihilferechtlich kann der Bund in seiner Infrastruktur finanzieren, was er will. Dies gilt jedoch nicht bei den Fahrzeugen. Deswegen gibt es institutionell den Bias, Maßnahmen eher in der Infrastruktur umzusetzen. Etwas anders sieht es beim Nahverkehr aus. Hier könnten und sollten die Aufgabenträger bei Ausschreibungen und Neuanschaffungen mehr auf Lärmreduzierung achten. Wenn man sich frühzeitig Gedanken macht, wie lärmerzeugende Faktoren am Fahrzeug reduziert werden können, kann der Lärm oft im Vorfeld stark gemindert werden, auch ohne dass das Fahrzeug erheblich teurer werden muss.

Es wurden Konzepte entwickelt, wie CO2-Reduzierung als Faktor bei Ausschreibungen berücksichtigt wird - müsste man jetzt auch die Lärmminderung zum Ausschreibungskriterium machen?

Ja. Denn die Bevölkerung wird Schienenlärm als Sound der Verkehrswende nicht akzeptieren.

Eine private Frage: Welche Folgen hatte Corona für Sie persönlich?

Die Vorlesungen und das ganze Leben waren eintöniger. Aber ich kam ganz gut damit zurecht und konnte freier zwischen meinen Wohnungen in Berlin und Karlsruhe wählen. In diesem Augenblick ist es aber vorbei mit der Freiheit, denn ich habe Corona und sitze in meiner Wohnung fest. Ich hoffe, Gesundheit und Freiheit kommen bald wieder.

Das Interview aus der Eisenbahntechnischen Rundschau 5/2022 führte Dagmar Rees.

Artikel Redaktion Eurailpress
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